• „Unsere Patienten dürfen nicht zum Werkstück in der Wertschöpfungskette der Gesundheitsindustrie werden!“

    Berufspolitischer Abend des Marburger Bundes
    17.Mai 2017
    Borkum
    mhe. Wohl kaum ein Bereich des Lebens ist in den vergangenen Jahrzehnten derart intensiv reguliert worden wie das deutsche Gesundheitswesen. „Es ist geradezu ein Wunder, dass die seit 1972 mit weit über 100 Gesetzen und Verordnungen mit über 10.000 Einzelvorschriften in immer kürzeren Abständen erfolgten Eingriffe des Gesetzgebers die ungebrochene Leistungsdynamik des Gesundheitswesens nicht bremsen konnte“, bilanziert der Ehrenpräsident der Bundesärztekammer Prof. Dr. med. Karsten Vilmar vor gut 100 Ärztinnen und Ärzten beim Berufspolitischen Abend des Marburger Bundes auf dem 71. Fort- und Weiterbildungskongress der Ärztekammer Westfalen-Lippe auf Borkum. „Dies spricht für die Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems und seiner tragenden Elemente, sowie die daraus folgende Zufriedenheit der Bürger mit unserem freiheitlichen Gesundheitswesen.“

    Die Gesundheitsbranche ist ein Wachstums- und Beschäftigungsmotor, weit größer als die deutsche Autoindustrie. „Das wird in anderen Branchen gerne umjubelt. Erfolge des Gesundheitswesens werden aber nicht gefeiert. Stattdessen werden angebliche Kostensteigerungen in der Gesundheitsbranche oft harsch kritisiert, obwohl bei exakter Untersuchung festzustellen ist, dass diese nie stattgefunden haben“, betont Prof. Dr. med. Karsten Vilmar.

    Für die Zukunft sei allerdings zu befürchten, dass nicht mehr der medizinische Versorgungsbedarf der Kranken das Leistungsgeschehen bestimmen wird, sondern ökonomische Überlegungen den Vorrang erhalten, warnte Prof. Dr. med. Karsten Vilmar. Sehr bedenklich sei, dass Vorstellungen, durch sektorübergreifende Qualitätssicherungen und durch einen Preiswettbewerb Preissenkungen bewirkt werden können. „Nicht nur die Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen im Krankenhaus lassen die Sorge aufkommen, dass der Patient schließlich zum Werkstück in der Wertschöpfungskette der Gesundheitsindustrie wird.“

    Prof. Dr. med. Karsten Vilmar forderte den Gesetzgeber auf, „endlich die damit verbundenen Gefahren zu erkennen und zitierte aus der Bundesärzteordnung: „Der Arztberuf ist kein Gewerbe, er ist seiner Natur nach ein freier Beruf. Daraus folgt, dass alle Ärztinnen und Ärzte diesem freien Beruf angehören, unabhängig davon, ob sie ihren Beruf in eigener Niederlassung oder im Krankenhaus oder in der Verwaltung ausüben. Ärztinnen und Ärzte dienen der Gesundheit des einzelnen Menschen und der Bevölkerung. Sie haben ihr ärztliches Handeln am Wohl des Patienten auszurichten. Insbesondere dürfen sie nicht das Interesse Dritter über das Patientenwohl stellen.“ Natürlich müssten Ärztinnen und Ärzte auch ökonomisch Denken und Handeln, „aber sie dürfen keinesfalls kommerziell handeln!“

    Um eine möglichst effiziente Versorgung der Patienten sicherzustellen, „sollte sich der Staat künftig mehr als bisher auf die Festlegung von Rahmenbedingungen beschränken und die Vertragsfreiheit der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Krankenkassen und Krankenhausträgern sichern, bei der allerdings auch Verantwortung und Kompetenz zusammengeführt werden müssen.“ Prof. Vilmar kritisierte, dass die Bundesärztekammer nicht im Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) vertreten ist, sondern dort lediglich die Kostenträger, Kassenärztliche Bundesvereinigung sowie die Deutsche Krankenhausgesellschaftüber die Belange des Gesundheitswesen entscheiden.

    „Wir wissen heute nicht, welche Formen der Selbstverwaltung die kommenden Jahrzehnte prägen werden. Eines ist allerdings auch in Zukunft sicher und eine Verpflichtung zugleich: Ein leistungsfähiges Gesundheitswesen erfordert die engagierte Mitwirkung der Ärztinnen und Ärzte und ihrer Selbstverwaltung. Haben wir also Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit und nutzen wir entschlossen gemeinsam die sicher trotz vieler Risiken und Gefahren weitaus größeren positiven Chancen.“

    Über sechs Jahrzehnte ist Prof. Dr. med. Karsten Vilmar bereits Arzt. Wie wohl kaum ein anderer kann der im Jahr 1930 in Bremen geborene Karsten Vilmar eine beachtliche Zeitspanne des deutschen Gesundheitswesens überblicken. In einem Rückblick erinnerte Prof. Vilmar auch an die positiven Veränderungen für Klinikärztinnen und -ärzte. „In den Nachkriegsjahren verweigerten die Klinikträger den Ärzten die Vergütung, „weil die angestellten Ärztinnen und Ärzte dort etwas lernen wollten. Klinikärzte hatten ihre gesamte Arbeitskraft dem Krankenhaus zur Verfügung zu stellen.

    Erst im Jahr 1961 wurde die Arbeitszeit tarifvertraglich reguliert, auf 60 Stunden pro Woche. Den Ärztinnen und Ärzten im Marburger Bund ist es in den Jahren 2005/2006 endlich gelungen, durch bundesweit geltende arztspezifische Tarifverträge leistungsgerechte Vergütungen für angestellte Ärztinnen und Ärzte zu erzielen und so die noch größere Abwanderung von Ärzten zu verhindern.“

    Es sei ein außergewöhnlicher Vorgang, kritisierte Prof. Karsten Vilmar, dass die Bundesregierung versuche, gemeinsam mit dem DGB und den Arbeitgebern durch das Tarifeinheitsgesetz den Grundgesetzartikel 9 auszuhebeln. „Dieser gewährt doch alle Berufen das Recht, zur Wahrung und Förderung ihrer Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden – auch uns Ärztinnen und Ärzten.“