Herr Sitte, Sie sind seit vielen Jahren Palliativmediziner. Wie kamen Sie dazu?
Angefangen hatte ich eigentlich im Krankenpflegebereich, dann kam das Medizinstudium hinzu und später meine Arbeit als Facharzt in verschiedenen Bereichen. Durch diesen Werdegang konnte ich das gesamte Spektrum menschlichen Lebens, von der künstlichen Zeugung bis hin zum natürlichen Tod, einmal kennenzulernen. Ursprünglich wollte ich Geburtshelfer werden, doch ethische Konflikte beim Schwangerschaftsabbruch haben mich einen anderen Weg einzuschlagen lassen. Jedoch war ich schon in der Gynäkologie palliativ tätig. Daher war es irgendwann ein logischer Schritt zur Palliativmedizin.
Worin besteht die Aufgabe eines Palliativmediziners?
Ich sehe mich als Lebenshelfer nicht als Sterbehelfer, da Sterben ja Teil des Lebens ist. Ich begleite Patienten und ihre Angehörigen bis zum Tod und auch darüber hinaus. Und gerade für letztere ist das sehr wichtig. Da kann man mit vermeintlich wenig schon ganz viel bewirken. Wie hier zum Beispiel: kürzlich wurde ich von der Polizei zu einem plötzlichen Kindstod eines 6 Monate alten Säuglings hinzugezogen. Jeder war betroffen auch die Polizisten. Die Situation war nicht einfach, hier das nackte kleine Kind auf dem Tisch, in einer Ecke die Mutter, die nicht zusehen konnte wie ich die Leichenschau machte und in der anderen die Polizei. Für solche Situationen hat man kein Konzept, da hilft nur Intuition. Also habe ich angefangen, mit dem Kind zu reden. Ich habe ihm erklärt, was ich gerade tue, wie gut es doch gepflegt worden ist und wie gut das Kind es in der Familie gehabt hat. Nachträglich habe ich durch den Hospizdienst erfahren, wie wertvoll und beruhigend meine Aussage in dieser Situation für die Mutter war.
Was braucht ein guter Palliativmediziner?
Der ideale Palliativmediziner braucht zwei wesentliche Dinge: Lebenserfahrung und ein gut funktionierendes Team. Und es braucht Mut und Demut. Mutig, wenn es darum geht, sich mal alleine durchzubeißen und demütig vor dem, was man bewirken kann. Jungen Medizinern, die sich dafür interessieren rate ich daher immer: schau dir andere Bereiche an bevor du dich entscheidest nur noch rein palliativ arbeiten zu wollen. Sammle Erfahrungen, erweitere dein Fachkenntnis. Denn überall ist ja ein bisschen palliativ mit drin und schau, dass du gut im Team arbeiten kannst, denn Palliativversorgung ist Teamwork. Bei uns in der Kinderpalliativversorgung ist das Team meist klein. Aktuell sind wir nur zu zweit. Im Krankenhausbereich ist es schön wesentlich größer mit Physiotherapeuten, Seelsorgern und Musiktherapeuten. Bei der Erwachsenversorgung findet man eher Internisten oder Anästhesisten, Onkologen und Hausärzte. Das Team muss gut zusammen funktionieren und sich aneinander reiben können, denn man ist sich nicht immer einig, weder fachlich noch ethisch. Und oft braucht es einen Konsens bis alle am Ende mit der Entscheidung leben können. Dann kann es auch passieren, dass ich am Ende eine Entscheidung mittrage, die nicht meine erste Wahl ist. Auch wenn ich rechtlich gesehen letztlich die Verantwortung trage.
Sterben ist für Palliativmediziner ein ständiger Begleiter. Wie gehen Sie damit um?
Herr Dr. Decker, ein Pionier der deutschen Palliativversorgung begann seine Vorträge stets mit „Liebe Sterbende“. Das stimmt, denn das sind wir alle. Von Geburt an ist uns der Tod in die Wiege gelegt. Und in den Medien wird er uns täglich präsentiert. Der Unterschied ist, dass man bei der Arbeit bewusst damit umgeht. Als Anästhesist bin ich es gewohnt, nach außen Ruhe auszustrahlen auch angesichts drohender Schwierigkeiten. Dabei hilft mir meine Fähigkeit zu dissoziieren. Ich kann zwar nicht generell das Menschliche vom Fachlichen abkoppeln, aber manchmal ist es hilfreich. Ähnlich wie bei einem Schauspieler, der eine Rolle spielt. In ganz schlimmen Situationen hilft einem auch mal Ironie oder Sarkasmus. Und ganz wichtig: nicht alles mit nach Hause zu nehmen.
Trotz der traurigen Seite der Palliativversorgung, was gibt es Schönes an bei diesem Beruf?
Natürlich ist das alles ein bisschen traurig. Aber schön ist es mit ganz wenig Intervention, das können Medikamente oder auch ein Gespräch sein, ganz viel bewirken zu können. Und manchmal kann auch Sterben schön sein. Gerade letzte Woche habe ich einen Angehörigen sagen hören ´das ist aber schön. Ach nein, das kann man ja so nicht sagen´, meinte er dann. Wieso eigentlich nicht? Der Patient ist friedlich eingeschlafen. Das ist doch tröstlich für alle Angehörigen. Und es nimmt auch ganz viel Angst vor dem eigenen Tod.
Der Tod hat ja viele Gesichter. Gibt es das gute und das schlechte Sterben?
Mir hat mal jemand gesagt, ein Mensch stirbt, wie er gelebt hat. Und so sieht dann auch sein Lebensende aus. Mir sind immer wieder Patienten begegnet, die bis zum Ende nicht vergeben können. Deren Sterbeprozess ist schwierig. Und dann gibt es auch ein schwieriges Sterben durch rein körperliche Belastungen, die man nicht haben möchte. Weil dadurch die Persönlichkeit zerfällt, sei es durch Abbauprozesse oder durch Krebs.
Wie sehen die beruflichen Aussichten als Palliativmediziner aktuell aus?
Ich musste als junger Arzt noch sehr viele Bewerbungen schreiben. Heute sind die Aussichten als Arzt mit palliativer Spezialisierung eine gute Stelle zu bekommen wirklich gut. Das liegt auch daran, dass das Thema immer mehr in den öffentlichen Fokus rückt. Dadurch eröffnen sich neue berufliche Einsatzmöglichkeiten.
Sie sind einer der Gründungsstifter der deutschen Palliativstiftung. Was genau macht diese Stiftung?
Zu Beginn wollten wir eine Stiftung für Wunscherfüllung machen für Schmerz- und im Sterben liegende Patienten. Da es aber bereits viele solcher Stiftungen gab, ergab sich schnell ein Bedarf für die deutsche Palliativstiftung. Durch sie können wir nicht nur kleine Wünsche erfüllen, sondern auch Therapien oder nötige Hilfsmittel. Hauptziel ist jedoch die Verhältnisse zu ändern. Wir wollen aufklären, aufrütteln, informieren. Ohne die Stiftung wäre es nie möglich gewesen in der Politik einen solchen positiven Einfluss nehmen zu können und das Thema in die breite Öffentlichkeit zu bekommen.