• Geld oder Leben

    Gastkommentar zur Krankenhausökonomie
    17.April 2020
    Chemnitz
    Der Arzt und Publizist Dr. Klaus-Gregor Eichhorn meint in seinem prägnanten Kommentar zur aktuellen Lage, der Konflikt zwischen Geld oder Leben bestehe nicht erst seit der Coronapandemie.

    Zurzeit verbreitet sich im Internet der Beginn eines Interviews mit dem Philosophen Theodor W. Adorno aus den 1960er-Jahren: „Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung.“ Adorno darauf knapp: „Mir nicht.“
    Dieser trockene Einwand aus einem völlig anderen Kontext geht nicht ohne Grund gerade im Netz „viral“. Denn bei aller Fixierung auf das akute Management der sogenannten Coronakrise dürfen wir nicht vergessen, dass eine Krise niemals nur etwas „von Außen“ ist, sondern vielmehr zeigt, was mit dem "Innen" - dem System, auf das der Stressfaktor trifft - schon vorher etwas nicht in Ordnung war.

    Das augenscheinlichste Beispiele ist die plötzliche Knappheit von Schutzausrüstungen wie Masken und Kittel sowie lebensnotwendiger Medikamente - noch bevor überhaupt eine Handvoll Corona-Patienten auf den meisten deutschen Intensivstationen angekommen ist.

    Aus den berühmten „Kostengründen“ wurde die Produktion auf wenige Standorte in sogenannten Billiglohnländer verschoben. Ökonomisch sinnvoll - nur leider verrückt: Wenn Sie zu Hause Ihren Garten bewässern müssten - würden Sie den Schlauch quer über drei Bezirke legen um ein paar Cent zu sparen, aber damit riskieren, dass man während der nächsten Trockenzeit über Kilometer die Leitung anzapfen oder ganz kappen kann? Nun, vielleicht würden Sie doch den Wasserhahn in Ihrem Garten nehmen.

    Die Lobgesänge auf die alles regelnde Hand des freien Marktes sind leiser geworden seit der Preis von Schutzmasken innerhalb von zwei Wochen um etwa 3000 Prozent angestiegen ist und in der Welt wieder einmal die Gesetze des Dschungels gelten: Der Stärkste nimmt sich, was er kann - so wie Deutschland sich noch damit brüstet, zu den Ländern zu gehören, die bei diesen Preisen mitbieten können.

    Daher muss man die Forderung mancher politischer und ökonomischer Akteurinnen und Akteure, möglichst schnell wieder zur Normalität zurückzukehren, als schlimmste Drohung von allen verstehen. Denn genau diese Normalität hat diese Krise ermöglicht oder zumindest so groß werden lassen. Kein Krieg, keine Hungersnot, kein Zusammenbruch wie etwa bei der „Spanischen Grippe“ (1918 - 1920) mussten vorangehen - es war das tägliche „business as usual“: die Missachtung ökologischer Prinzipien, der schamlose weltumspannende Dauertransit von Menschen und Gütern, das rein aufs Ökonomische getrimmten Gesundheitswesen.

    Entgegen den großen Überschriften, dass nun plötzlich durch ein schwerwiegendes äußeres Ereignis die Gesellschaft vor der Frage stünde „Geld oder Leben“ und Ärztinnen und Ärzte in der Folge vor der von Leben oder Tod, stellt sich in Wahrheit diese Frage schon seit Jahren - nur eben nicht so medial verdichtet, ohne Vollvermummung und ohne Kanzlerinnen-Ansprache.

    Dass Krankenpfleger und Ärzte wirtschaftliche Interessen vor die Gesundheit und das Leben ihrer Patienten stellen müssen, ist keine Neuheit - es ist der Dauerzustand. Wie in jedem Betrieb, so muss in Praxen und Krankenhäusern mit möglichst wenig Personal der größtmögliche Gewinn erzielt werden. Den Gesetzen der kapitalistischen Ökonomie folgend, braucht es eine fortwährende Nachfrage und immerwährendes Wachstum. Nun stellt sich die Frage, woher bei gleichbleibender Bevölkerungsgröße ein derartiges Wachstum herkommen soll? Sie ahnen es: durch mehr „Krankheit“. Das Schlimmste, das dem Gesundheitssystem demnach passieren könnte, wäre also: Gesundheit.

    Deswegen steigt und steigt die Zahl der operativen Eingriffe. Deswegen müssen Krankenhausbetten belegt werden, komme was wolle. Und deswegen müssen sie auch wieder leer geräumt werden, sobald die „Fallpauschale“ abgegolten ist - egal, mit welcher Konsequenz für die Menschen.

    Aus diesem Grund bläst sich eine Bürokratie zwischen Krankenkassen und „Leistungserbringern“ auf, versuchen die einen immerzu die anderen auszutricksen. Mit der Folge dass mehr und mehr Personal auf beiden Seiten mit Dokumentieren, Prüfen und Schummeln beschäftigt ist, statt sich den Patienten widmen zu können.

    Da aktuell viel von „Infektiosität“ und Hygiene gesprochen wird, sei dieser „Normalzustand“ an einem nur wenige Monate alten Beispiel illustriert: Noch im November 2019 hatte das Robert-Koch-Institut veröffentlicht, dass sich in Deutschland jährlich bis zu 600.000 Menschen eine Krankenhausinfektion zuziehen und jährlich 10.000 - 20.000 Menschen daran sterben. Gleichzeitig sind in unserem Land 17.000 Pflege-Stellen nicht besetzt - ein Desaster. Wenn Sie sich nun vorstellen, was passiert, wenn eine Schwester oder ein Pfleger mit 20 bis 30 Alten und Kranken im Nachtdienst allein ist: Wo, denken Sie, wird es zwangs-läufig als erstes hapern, wenn er oder sie von einem Patienten zum nächsten spurtet?

    Genau: An der Hygiene. All das und noch viel mehr war schon Normalzustand, bevor Deutschland und die Welt über Corona sprachen. Und, das muss man fürchten, wird auch wieder so weitergehen, wenn keiner mehr davon spricht.

    Von den Funktionären und Komplizen des Gesundheitswesens wird in der aktuellen Situation immer wieder betont, unser System sei auch in der Krise „leistungsfähig“. Leistungsfähig: ja - nur für wen und für was? Bis zuletzt eben für maximale Gewinne, für Masse, für eine Industrie im Dauerstress - ob es auch für eine Situation wie die aktuelle gewappnet ist, bei der es auf Solidarität statt Konkurrenz, ärztliches und pflegerisches Können statt Managerqualitäten, auf stabile Verhältnisse, zufriedene MitarbeiterInnen und Rückgriff auf ein personell wie materiell stabiles Fundament ankommt - das bleibt abzuwarten.

    Natürlich bringt eine Pandemie mit einem solch heimtückischen Erreger jedes Gesundheitssystem - auch ein rein öffentliches - an seine Grenzen und stellt Ärzte und Pflegende vor bittere Entscheidungen. Die Schwächen des hiesigen Systems haben aber erheblich die Ausgangsbedingungen verschlechtert und uns, entgegen den Versprechungen des „freien Marktes“, in eine absurde Situation gebracht - eine Mangel-Wirtschaft, die an den real existierenden Sozialismus erinnert. Ein weiteres Indiz dafür, dass beide Systeme keine Lösung sind und die Welt neue Ideen braucht.

    Viele Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Kliniken, mit denen ich in den letzten Tagen gesprochen habe, sind verunsichert und haben Angst vor der Ausnahmesituation, die uns wahrscheinlich erwartet. Doch mindestens ebenso viele, vor allem in den Pflegeberufen, stellen sich ausgehend von den Erfahrungen der letzten Jahren noch andere Fragen: Wenn der Sturm vorbei ist - wird man sich an die erinnern, die ihm getrotzt haben, die jetzt Stress und Überstunden, persönliches Risiko und psychische Belastung akzeptieren mussten? Oder wird es weitergehen wie bisher - oder gar noch schlimmer, weil die wirtschaftlichen Verluste aus der Corona-Zeit kompensiert werden müssen? Werden irgendwann die billigen Plastikschläuche an den Beatmungsgeräten durch bessere ersetzt - und zwar auch dann, wenn nicht mehr alle davon reden, dass durch eine Undichte das Virus in die Welt geblasen wird? Wird mein Arbeitgeber wirklich alles tun, um meine Gesundheit zu schützen? Ist es tatsächlich in Ordnung, die Masken mehrfach zu benutzen? Wie kann es sein, dass die Vorschriften dazu plötzlich gelockert werden?

    Auch wenn diese Zweifel in vielen Fällen unberechtigt sein mögen - sie sind in der Welt und verunsichern. Und eben nicht wegen dem, was in der Krise gesagt und getan wird - sondern aufgrund der Erfahrungen in der Zeit davor.

    Ich entsinne mich an die Worte eines Krankenpflegers, der mir sagte: „Ich will nicht, dass die Leute für mich klatschen. Das ist nett, aber es nützt nichts. Es lenkt nur ab. Ich will, dass die Leute mit mir streiken.“ Das ist es, worum es geht: Umso mehr diese Krise reduziert wird auf einen „Krieg gegen einen unsichtbaren Feind“, einen „äußeren Schock für die Ökonomie“, gar eine „Strafe Gottes“ oder eine „zurückschlagende Natur“ - umso mehr lenken wir davon ab, dass diese Misere zu einem großen Teil menschengemacht ist und Menschen es deshalb auch ändern könnten. So wird das Politische verdrängt durch das vermeintlich Schicksalhafte. So ändert sich nichts.

    Entweder/Oder: Vor dieser Frage stehen die meisten, die im medizinischen Sektor arbeiten, jeden Tag. Und die meisten hoffen, dass sich nach dieser Krise unsere Gesellschaft endlich die Frage stellt: Wollen wir ein Gesundheitssystem als Daseinsfürsorge - oder als Business?

    Das schlimmste, befürchte ich, könnte daher erst noch kommen: Dann nämlich, wenn hinterher alles so weitergeht, wie bisher. Wenn eine Impfung, eine „Herdenimmunität“ oder ein Medikament dem Spuk ein Ende bereiten, sich die Überlebenden den Schweiß von der Stirn wischen und denken: Diesen Feind haben wir vertrieben! Und jetzt wieder weiter wie gehabt!

    Bis zur nächsten Krise: Banken, Klima, Corona - erinnern Sie sich noch, was vor 10 Jahren versprochen wurde, während der letzten schweren Krise unseres Systems - und was am Ende davon übrig blieb?

    Ja, dieses Virus stellt uns vor eine existenzielle Frage. Aber vor allem vor diese eine: Entweder lernt die Menschheit nun - oder lernt sie nicht?

    Zum Autor

    Dr. Klaus-Gregor Eichhorn ist Facharzt für Anästhesiologie, Autor, Filmemacher und Mitglied des Marburger Bund Sachsen.

     

    Hinweis

    Der Kommentar wurde zuerst am 4. April in der Freien Presse Chemnitz veröffentlicht.