Mehr als zwei Monate nach Beginn der Corona-Krise wollen mehr als zwei Drittel der angestellten Ärztinnen und Ärzte, dass nun wieder mit der Regelversorgung in den Krankenhäusern und anderen Bereichen des Gesundheitswesens begonnen wird. Gleichzeitig befürchtet eine knappe Mehrheit der Ärzte, dass es im weiteren Verlauf der Coronavirus-Pandemie doch noch zu einer Überforderung des Gesundheitswesens kommen könnte. Dieses vielschichtige Ergebnis hat der Marburger Bund in einer Ad-hoc-Umfrage unter seinen Mitgliedern in der Zeit vom 29. April bis 10. Mai 2020 zusammengetragen. Mehr als 8.700 angestellte Ärztinnen und Ärzte aus allen Versorgungsbereichen – knapp 90 Prozent aus Krankenhäusern - beteiligten sich an der bundesweiten Online-Befragung.
„Das MB-Barometer zur Corona-Krise ist eine wichtige Momentaufnahme und bildet die Auffassung eines repräsentativen Querschnitts der angestellten Ärzteschaft ab. Wir haben ein authentisches Meinungsbild unserer Mitglieder erhalten, das Aufschluss gibt über die Erfahrungen in den zurückliegenden Wochen und die Einschätzung zum weiteren Verlauf unter den Bedingungen der Pandemie“, sagte Dr. Susanne Johna, 1. Vorsitzende des Marburger Bundes.
Bei einer deutlichen Mehrheit der Befragten (57,2 %) hat das Arbeitsaufkommen seit Beginn der Corona-Krise abgenommen, bei etwa einem Viertel (25,1 %) ist es gleichgeblieben und bei 17,7 Prozent der befragten MB-Mitglieder ist es gestiegen. „Die ohnehin schon starke Belastung zu normalen Zeiten hat bei einem relevanten Teil der Mitglieder zugenommen. Hier wirken sich auch die vom Gesetzgeber verfügten Ausnahmen vom Arbeitszeitgesetz aus, die befristet eine Verlängerung der Wochenarbeitszeiten über 60 Stunden hinaus und verkürzte Ruhezeiten erlauben. Wir werden sehr darauf Acht geben, dass diese Auswüchse nicht dauerhaft bestehen bleiben. Es gibt keinen Grund, die Regelungen aus dem Arbeitszeitgesetz weiter aufzuweichen“, sagte Johna.
Zehn Prozent der Befragten sind sogar von Kurzarbeit betroffen, bei 90 Prozent ist das nicht der Fall. Rund zehn Prozent der Befragten geben an, dass in ihrem Betrieb Kurzarbeit eingeführt worden sei. Betroffen sind vor allem Mitglieder des Marburger Bundes in Rehakliniken – dort liegt der Kurzarbeit-Anteil bei 54 Prozent –, im ambulanten Sektor bei 32 Prozent und in privaten Kliniken bei 12 Prozent. Bei 64 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in Kurzarbeit wurde die Arbeitszeit um bis zur Hälfte des üblichen Umfangs reduziert. Rund 17 Prozent der von Kurzarbeit Betroffenen müssen vorerst gar nicht zur Arbeit erscheinen (Kurzarbeit null). „Aus unserer Sicht ist der Befund bemerkenswert. Es handelt sich ja um Ärztinnen und Ärzte, die in der Krise auch anderweitig hätten eingesetzt werden können, um beispielsweise den Öffentlichen Gesundheitsdienst zu unterstützen. Auch der Abbau von Überstunden ist Kurzarbeit vorzuziehen. Aus unseren regelmäßigen Mitgliederumfragen wissen wir, dass angestellte Ärztinnen und Ärzte pro Jahr etwa 65 Mio. Überstunden leisten“, erklärte die MB-Bundesvorsitzende.
Dass eine Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte weniger Arbeit als üblich hatte, liege daran, dass seit Mitte März kaum noch planbare Operationen in den Krankenhäusern stattgefunden haben, auch das Notfallgeschehen sei zurückgegangen, so Johna. Gleichzeitig mussten weniger COVID-19-Patienten in den Kliniken behandelt werden als zunächst befürchtet.
Eine Wiederaufnahme der Regelversorgung (z.B. elektive Eingriffe, Rehabilitation) befürworten knapp 70 Prozent der Befragten, rund 16 Prozent sind dagegen und 14 Prozent unentschieden. „Viele Ärztinnen und Ärzte haben vor zwei Monaten ihren Patienten erklären müssen, dass die geplante Operation wegen der Corona-Krise verschoben werden muss. Jetzt möchten sie ihren Patienten sagen können, dass es bald einen neuen Termin gibt. Unseren Mitgliedern ist bewusst, dass es hier einen wachsenden Leidensdruck gibt, auch wenn Ärztinnen und Ärzte sehr genau ausgewählt haben, welche Eingriffe über mehrere Wochen aufgeschoben werden konnten. Ich kann gut verstehen, wenn jetzt viele der Kolleginnen und Kollegen sagen: Wir müssen wieder hochfahren. Das sollte allerdings mit der notwendigen Umsicht geschehen. Es gibt nicht wenige unter unseren Mitgliedern, die eine größere zweite Welle befürchten, die mehr Kapazitäten bindet, als dass in den vergangenen Wochen der Fall war. Deswegen müssen weiterhin, wenn auch im geringeren Umfang als bisher, insbesondere intensivmedizinische Kapazitäten freigehalten werden“, forderte die MB-Bundesvorsitzende.
Keine Entwarnung geben die Mitglieder des Marburger Bundes hinsichtlich der Versorgung mit adäquater Schutzausrüstung. Zwar teilen 62 Prozent der Befragten mit, derzeit ausreichend Schutzkleidung zur Versorgung der Patienten zur Verfügung zu haben, 38 Prozent aber verneinen dies. Am häufigsten wird die unzureichende Anzahl an medizinischen Atemschutzmasken (FFP-2 und FFP-3-Masken) beklagt. Einen größeren Mangel scheint es auch bei Schutzkitteln und Schutzanzügen zu geben. „Es hat zweifellos einige Anstrengungen gegeben, Engpässe zu beheben. Das Ergebnis unserer Umfrage zeigt aber, dass selbst unter den derzeit günstigen Bedingungen des Infektionsgeschehens in sehr vielen Kliniken Schutzmasken und andere wichtige Materialien nach wie vor Mangelware sind. Mit Blick auf die jetzt nachzuholenden Operationen ist das kein guter Befund. Das Coronavirus wird uns noch lange begleiten. Deswegen dürfen wir bei der Beschaffung der notwendigen Schutzausrüstung nicht nachlassen. Hier hoffen wir weiter auf die dauerhafte Produktion in Deutschland“, sagte Johna.