Um sich ein Bild der aktuellen Stimmungslage und Bedingungen in den niedersächsischen Krankenhäusern während der Corona-Krise zu verschaffen, hat der Marburger Bund Niedersachsen unter der Betriebsräteschaft nachgefragt: An der Online-Umfrage haben vom 15.-26. Mai 60 niedersächsische Betriebsrätinnen und Betriebsräte teilgenommen und stellvertretend für ihre Häuser geantwortet.
„Mit unserer Umfrage haben wir einen authentischen Einblick in einen nennenswerten Teil der 172 Krankenhäuser bei uns in Niedersachsen gewonnen. Die Antworten liefern wichtige Anhaltspunkte und zeugen als Momentaufnahme von der Erfahrung der letzten Zeit und geben gleichzeitig wichtige Hinweise für die Zukunft“, ordnet Hans Martin Wollenberg, 1. Vorsitzender des Marburger Bund Niedersachsen die Ergebnisse ein.
Mit 38,3 Prozent kommt der größte Anteil der Umfrageteilnehmer aus kommunalen Krankenhäusern. 23,3 Prozent arbeiten in privaten Kliniken und jede/r Fünfte in kirchlichen Krankenhäusern (20%). Etwa 8,3 Prozent der Teilnehmenden sind in Rehakliniken tätig, 5 Prozent in Universitätskliniken.
Einbindung und Mitbestimmung vielerorts nicht ausreichend gegeben
Auf die Eingangsfrage, ob die betriebliche Interessenvertretung in den Krisenstab der Einrichtung eingebunden sei, antworten rund 60 Prozent mit „ja“ (58,33 Prozent). Mehr als ein Viertel der Befragten (28,33 Prozent) sieht sich zwar beteiligt, nicht aber in ausreichendem Umfang und 13,33 Prozent seien laut eigener Aussage nicht eingebunden.
Knapp über die Hälfte der Betriebsrätinnen und Betriebsräte (53,33 Prozent) geben an, ihre Mitbestimmungsrechte würden auch in Zeiten der Corona-Krise geachtet. 45 Prozent sagen, dies geschehe nicht in ausreichendem Umfang. 1,67 Prozent verneinen eine Achtung ihrer Mitbestimmungsrechte: „Wir als Betriebsrat rennen der Mitbestimmung hinterher. BR: Ein MUSS im Krisenstab“, lautet ein Freitext-Kommentar zur Umfrage.
„Diese Zahlen sind alarmierend. Gerade in einer Zeit wie dieser, die alle Klinikbeschäftigten extrem beansprucht, die durch Unsicherheiten, Anstrengungen und immer neue Herausforderungen gezeichnet ist, müssen die Sorgen, Interessen und Belange der Ärztinnen und Ärzte ernstgenommen und geschützt werden. Um diese wichtige Aufgabe wahrnehmen zu können, muss der Betriebsrat aktiv eingebunden sein und Gehör finden, alles andere läuft in die falsche Richtung und verlangt einen rigorosen Kurswechsel“, fordert der 2. Vorsitzende des Marburger Bund Niedersachsen Andreas Hammerschmidt.
Mangel an Schutzmaterial – Testmöglichkeiten ausbaufähig
Bei der Frage nach der Verfügbarkeit von verschiedenen Schutzmaterialen in ausreichender Zahl und Qualität zeigt sich speziell bei Schutzmasken und Schutzanzügen ein großer Mangel: 26,67 Prozent geben an, nicht genügend Schutzmasken zu haben, bei den Schutzanzügen ist es sogar mehr als jede/r Dritte (38,60 %).
Die Testmöglichkeiten für Beschäftigte werden von 66,67 Prozent als ausreichend eingeschätzt, jede/r dritte Befragte bewertet sie als unzureichend (33,33 %).
80 Prozent finden die Quarantänemaßnahmen im Hause für infiziertes Personal ausreichend, jede/r Fünfte unzureichend (20 %).
Wollenberg betont: „Immer wieder zeigt sich: Wir dürfen im Bemühen um ausreichend Schutzmaterialien nicht nachlassen. Ärztinnen und Ärzte müssen sich selbst schützen können, während sie Erkrankten helfen. Noch immer gibt es hier gravierende Lücken in der Versorgung mit Schutzausrüstung – diese sind umso frappierender, da wir uns aktuell in einer eher ruhigen Phase befinden. Wie wäre es dann erst bei einer möglichen zweiten Corona-Welle? Dann darf unzureichende Schutzkleidung kein Thema mehr sein. Zudem betonen wir nochmals unsere Forderung nach flächendeckenden präventiven Tests für Ärztinnen und Ärzte.“
Gefährdungsanzeigen im Zusammenhang mit der Corona-Krise
In jedem 5. Hause (20 %) treten im Zusammenhang mit der Corona-Krise Gefährdungsanzeigen auf. In Freitext-Antworten werden hierzu unter anderem der vermehrte Anfall von Patientinnen und Patienten bei gleichzeitig unzureichender Versorgung, die Gefährdung durch späte oder unklare Testergebnisse oder die Überlastung genannt. Auch der Patienten-Stau und zu lange Wartezeiten in der zentralen Notaufnahme sind ein Thema. Die große Mehrheit der Befragten (80 %) verneint das Vorkommen Pandemie-bedingter Gefährdungsanzeigen.
Dringlichste Probleme in niedersächsischen Kliniken sind vielfältig
Von finanziellen Engpässen über Personalmangel bis hin zur Vereinbarkeit von Regelbetrieb und Wahrung der Sicherheitsauflagen stehen die Häuser vor sehr gemischten Herausforderungen. Mit entsprechenden Folgen: „Die Liquiditätslage der Einrichtung aufgrund der Corona-Krise ist sehr angespannt, dadurch werden die Rechte der Mitarbeiter nicht ausreichend beachtet. Mitarbeiter werden ungewollt in den Urlaub und ins Minus geschickt“, lautet ein Kommentar zur Frage. „Extrem unüberschaubare und sich ständig ändernde organisatorische Anforderungen. Dadurch ein schlechtes Gewissen bei allen, ständig etwas falsch zu machen“, ein anderer.
„Grundsätzlich zeigt sich: Transparenz und klare, auch zeitlich realistische Vorgaben seitens der politischen Entscheidungsträger sind unabdingbar. Themen wie eine zu dünne Personaldecke, die bereits vor der Epidemie ein Problem darstellten, haben sich mancherorts extrem zugespitzt. Auch Liquidität ist ein großes Thema. Hier braucht es nachhaltige und zukunftsfähige Modelle. Wir werden die Krankenhausfinanzierung nach Corona neu denken müssen“, kündigt Hammerschmidt an.
Rückkehr zur Regelversorgung mit wenigen Ausnahmen befürwortet
In 95 Prozent der Häuser werden bereits konkrete Schritte zur Rückkehr zur Regelversorgung (wie das Vornehmen von elektiven Eingriffen, Rehabilitation etc.) umgesetzt oder sind geplant. Dies wird überwiegend positiv bewertet, „sofern die Risiken z.B. durch Testen der Patienten minimiert werden und die Öffnung langsam und kontrolliert erfolgt“, so eine Freitext-Antwort. Jedoch gibt es auch Bedenken: „Sehr wichtig ist aus unserer Sicht die Einhaltung der Corona-Regeln und eine ausreichende Besetzung der Stationen mit Personal. Aufgrund der Liquiditätsprobleme ist aber zu erwarten, dass auch weiterhin versucht wird, mit wenig Personal viele Punkte zu generieren und dadurch die Hygieneregeln nicht eingehalten werden und das Personal sofort wieder in die Überforderung gerät.“
Der Blick in die Zukunft: Von „entspannt“ über „vorsichtig optimistisch“ bis hin zu „traurig, enttäuscht und wütend“
Abschließend hat der Marburger Bund Niedersachsen gefragt, wie sich die Betriebsrätinnen und Betriebsräte fühlen, wenn sie aus ihrer beruflichen Perspektive auf die kommenden Monate blicken. Auch hier waren die Antworten erwartungsgemäß sehr individuell – positive und negative Gefühle in verschiedenen Schattierungen halten sich in etwa die Waage. Eine Auswahl:
„Die Versorgung von Patient*innen ist gesichert. Die Regelungen für Flexibilität in der Arbeit sind fair, aber belastend.“
„In großer Ungewissheit, wie der weitere Verlauf dieser Pandemie sich auf uns auswirken wird. Angst vor der Rückkehr zu den Zuständen vor der Pandemie (Überbelastung bzw. geringe Wertschätzung der Mitarbeiter).“
„Ruhig. Mit Krise können wir als Ärzte umgehen, das Management muss seine Hausaufgaben machen.“
„Sehr gut. Es ist ein Privileg, in einem systemrelevanten Beruf zu arbeiten.“
„Der Virus wird uns begleiten, aber wir haben einen Umgang damit gelernt. Bei Fallzahlenanstieg kann unser Gesundheitssystem reagieren. Ich erwarte von der Politik, dass verstärkt an guten Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter in Kliniken entschieden wird."
Die Fotos von Hans Martin Wollenberg, 1. Vorsitzender Marburger Bund Niedersachsen, und Andreas Hammerschmidt, 2. Vorsitzender Marburger Bund Niedersachsen, sind zum Abdruck im Zusammenhang mit dieser Pressemitteilung freigegeben.