Unser Gesundheitssystem ließ damals (in den 1990er Jahren) das ‚Mensch sein‘ der Gesundheitsschaffenden noch zu: Es war als Solidargemeinschaft konzipiert, also finanziert und organisiert, und Daseinsvorsorge war die alles bestimmende Grundlage und der Konsens zwischen Gesellschaft, Politik und Akteuren. Anfang dieses Jahrtausends, also ganz genau im Jahr 2003, wurde ein Abrechnungssystem für den stationären Bereich verpflichtend, das nach Fallpauschalen abrechnet.
Und das sind mittlerweile die Auswirkungen dieses DRG-Systems:
- ein völlig aus dem Ruder laufendes Abrechnungs- und Abrechnungskontrollsystem: Krankenhaus vs. MDK (MD-Medizinischer Dienst) und Krankenkassen,
- ausufernde Abrechnungsstreitigkeiten vor Sozialgerichten (bis hin zum Bundesverfassungsgericht),
- u.a. auch infolge der Abrechnungsstreitigkeiten: eine Abrechnungskontroll- und beginnend (schon fast als entwürdigend zu empfindende) Abrechnungsmisstrauensbürokratie,
- hochbezahlte Beratungsfirmen, die sowohl bei Krankenkassen als auch bei Krankenhäusern Kosten verursachen,
- externe Abrechnungs-Dienstleister, die die Abrechnung für Krankenhäuser oder die Abrechnungskontrolle für Krankenkassen übernehmen,
- enorme Investitions- und Wartungskosten für IT-Abrechnungsprogramme (hier Abrechnungsoptimierung versus dort Abrechnungsprüfung),
- Erschaffung von Instituten zur Regulierung von Kosten und Qualität (GBA, IQTiG, IQWiG, InEK (ehemals DIMDI),
- in der alltäglichen Patientenversorgung nicht umsetzbare Gesetzesfluten und Verordnungen seitens des Bundesgesundheitsministeriums,
- kommerzielle, börsennotierte Klinikkonzerne, die Überschüsse erwirtschaften müssen, um hochbezahlte Vorstände zu finanzieren bzw. um Dividenden auszuschütten.
Diese Auswirkungen der Abrechnung nach Fallpauschalen führten dazu, dass (hoch-)spezialisiertes medizinisches Fachpersonal, zigtausende Ärzte/Ärztinnen, Pfleger/Pflegerinnen und medizinische Fachangestellte abgewandert sind. Z.B. in die Bereiche Abrechnung im Krankenhaus und Abrechnungskontrolle bei den Krankenkassen oder dem MDK.
Dieser massive „brain drain“, die Flucht von hervorragend ausgebildetem medizinischen Personal in die ‚Abrechnungs-Administration‘ – also weg von der Patientenversorgung – wurde angeheizt und gefördert durch eine psychische und physische Arbeitsüberlastung im Alltag in der Patientenversorgung:
- durch die Arbeitsüberlastung, die dem Personalabbau geschuldet ist, um wirtschaftlich bzw. profitabel zu sein und
- durch die Arbeitsüberlastung hervorgerufen durch eine Misstrauens- und Abrechnungsbürokratie, die das eigentliche sinnstiftende Tun des Berufes – dem Patientenwohl zu dienen – vernichtet hat.
Im täglichen Erleben der Realitäten wissen wir patientennah Tätigen, dass die Kampagne des Bundesfamilienministeriums unwirklich ist und völlig realitätsfern. Denn eine ‚Karriere als Mensch‘ lassen die Bedingungen unseres derzeitigen Gesundheitssystems gar nicht mehr zu. Aber genau diese ‚unwirkliche‘ Kampagne des Bundesfamilienministeriums sollten wir nutzen, ein Gesundheitssystem zu fordern, indem Menschen arbeiten können, die ihre Profession leben wollen, deren Antrieb und Anspruch – dem Wohl des Patienten zu dienen – nicht von Profit, Ausbeutung und Bürokratiewahnsinn zerstört wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen bewahren Sie deshalb bitte Haltung! Wir können unserer Profession nach wie vor nur gerecht werden, wenn das Wohl des Patienten unser oberstes Gebot bleibt!
Eleonore Zergiebel ist Mitglied im Vorstand des Marburger Bundes NRW/RLP