I. Beschluss des GBA und Prüfungen der MD
Zum Hintergrund: Der Gemeinsame Bundesausschuss hatte im April 2018 einen Beschluss über Regelungen zu einem gestuften System von Notfallstrukturen im Krankenhaus gefasst, in dem 30-minütige Eintreffzeiten vorgesehen sind. Zudem hat der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) eine vom Bundesgesundheitsministerium genehmigte Richtlinie für die „Regelmäßige Begutachtungen zur Einhaltung von Strukturmerkmalen von OPS-Kodes“ erlassen. Darin ist u.a. definiert, dass innerhalb von 30 Minuten ein Facharzt am Patienten verfügbar sein muss. Die Medizinischen Dienste (MD) beginnen nun mit der Prüfung dieser Vor-gaben.
II. Abgrenzung Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst
Bereitschaftsdienst liegt dann vor, wenn sich der Arzt auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufzuhalten hat, um im Bedarfsfall die Arbeit aufzunehmen. Dagegen liegt Rufbereitschaft vor, wenn der Arzt sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufzuhalten hat, um auf Abruf die Arbeit aufzunehmen. Die Zeit des Bereitschaftsdienstes wird vollständig als Arbeitszeit bewertet. Dagegen gelten die Zeit der Rufbereitschaft, in denen der Arzt nicht die Arbeit aufgenommen hat, grundsätzlich als Ruhezeit. Damit ist das Wesen der Rufbereitschaft dadurch gekennzeichnet, dass die Ärztin bzw. der Arzt grundsätzlich die Zeit, in denen ihre beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei gestalten und sich ihren eigenen Interessen widmen können. Kommt es hier zu erheblichen Beeinträchtigungen, liegt allein deswegen keine Rufbereitschaft vor. Auf etwaige Inanspruchnahmen - gleich wie viele - kommt es nicht an.
III. Rufbereitschaft bei kurzer Eintreffzeit unzulässig
Nach Überzeugung des MB ist die Anordnung einer Eintreffzeit in dem Sinne, innerhalb von 30 Minuten „am Patienten“ zu sein, im Rahmen einer Rufbereitschaft unzulässig. Von zentraler Bedeutung ist hierbei, dass in den 30 Minuten etwaige Wege- und Rüstzeiten bereits enthalten sind. Je nach tatsächlicher Größe des Krankenhauses kommt damit womöglich nur der Aufenthalt im Krankenhaus oder in unmittelbarer räumlicher Nähe zum Krankenhaus in Frage. Das BAG hat entschieden, dass eine zeitliche Vorgabe von 20 Minuten zwischen Abruf und Arbeitsaufnahme nicht zulässig ist. Bei einer solchen Zeitvorgabe ist der Arbeitnehmer faktisch gezwungen, sich in unmittelbarer Nähe des Arbeitsplatzes aufzuhalten, um die Arbeit bei Bedarf fristgerecht aufnehmen zu können. Dies ist mit dem Wesen der Rufbereitschaft nicht zu vereinbaren. (BAG, Urt. v. 31.1.2002 – 6 AZR 214/00). Das bedeutet aber nicht, dass längere Eintreffzeiten, wie hier die 30 Minuten, grundsätzlich zulässig wären.
- EuGH-Rechtsprechung
Mit Ausnahme der vorgenannten BAG-Entscheidung, existiert keine „allgemeine“ Rechtsprechung zu der Rechtsfrage. Es kommt immer auf die Ausgestaltung des Einzelfalls an. Der EuGH hat jüngst noch einmal betont, dass auch bei seltenen Einsätzen es sich um Arbeitszeit handelt, wenn allein die dem Arbeitnehmer für die Aufnahme seiner beruflichen Tätigkeit auferlegte Frist Auswirkungen hat, die seine Möglichkeit zur freien Gestaltung der Zeit, in der während der Rufbereitschaft seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, objektiv gesehen ganz erheblich einschränken. (EuGH, Urteil vom 9.3.2021 in der Rechtssache C-580/19, JR gegen Stadt Offenbach).
- DKG-Gutachten vom Juni 2018
In einem Kurzgutachten im Auftrag der DKG kommt Prof. Thüsing, Inhaber des Lehrstuhls für Arbeitsrecht am Institut für Arbeitsrecht und das Recht der sozialen Sicherheit an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, zu dem folgenden Fazit: „Der im Beschluss des G-BA in seiner Sitzung am 19. April 2018 festgelegte Grundsatz wonach „ein Facharzt innerhalb von maximal 30 Minuten am Patienten verfügbar“ sein muss, lässt sich rechtssicher nicht durch Rufbereitschaft umsetzen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass eine Reaktionszeit von 30 Minuten mit dem Wesen der Rufbereitschaft nicht vereinbar ist. Wollte man dies ungeachtet dessen in Rufbereitschaft umsetzen, drohen vergütungsrechtliche Konsequenzen, aber auch Bußen nach dem Recht der Ordnungswidrigkeiten und ggf. selbst strafrechtliche Sanktionen“.
IV. Persönliches Haftungsrisiko bei Einzelvertraglicher Zusicherung
Soweit Ärztinnen und Ärzte individuell anderslautende vertragliche Vereinbarungen mit 30-minütiger Eintreffzeit am Patienten unterzeichnet haben, dürften diese auf Grund der vorstehenden Ausführungen kaum Bestand haben. Im tarifgebundenen Bereich dürften individuelle Vereinbarungen schon deswegen unwirksam sein, weil sie für die Ärzteschaft Verschlechterungen gegenüber den tariflichen Regelungen bedeuten. Zumindest führen die Vorgaben arbeitszeitrechtlich zur Wertung als Arbeitszeit, so dass ein weiterarbeiten am Folgetag unzulässig ist. Es ist jedoch dringend zu empfehlen, eine vom Arbeitgeber geforderte schriftliche Vereinbarung, dass bestimmte Eintreffzeiten innerhalb der Rufbereitschaft erfüllt werden, nicht zu unterschreiben. Das bereits deshalb nicht, um nicht die daraus ggf. resultierende Haftung zu übernehmen, wenn wegen einer überschrittenen Eintreffzeit ein Schaden eingetreten ist. Dieser Aspekt könnte im Fall der Fälle in einem Schadensersatzprozess nämlich unabhängig von der arbeitsrechtlichen Lage scherwiegend sein.
V. Keine anderweitige Regelungskompetenz für Beschäftigtenvertretung
Schließlich sind auch keine zulässigen Handlungsspielräume für Personal- und Betriebsräte ersichtlich. Die Tarifverträge des Marburger Bundes regeln insbesondere die Voraussetzungen zur Vollarbeit, zum Bereitschaftsdienst und zur Rufbereitschaft. Die Regelungen hier sind abschließend. Es sind auch keinerlei Öffnungsklauseln für die betriebliche Ebene vorhanden, die hier die Betriebsparteien mit einem Mandat ausstatten. Soweit die Arbeitgeberseite eine Dienstform mit 30-minütiger Eintreffzeit am Patienten vereinbaren wollen, so geht dies zulässiger Weise nur im Wege des Bereitschaftsdienstes. Abweichungen von der Rufbereitschaft im tariflichen Sinne ist wegen der Sperrwirkung nach § 77 Abs. 3 BetrVG ausgeschlossen.
VI. Fazit
Durch die Vorgaben von GBA und MDS wird das Krankenhaus verpflichtet und nicht die einzelne Ärztin oder der einzelne Arzt. Der Krankenhausbetreiber muss deren Umsetzung mit arbeits- und tarifrechtlich zulässigen Instrumenten gewährleisten aber nicht seine Organisationsverantwortung den Ärztinnen und Ärzten überhelfen. Sei es durch unzulässige Dienstanweisungen, einzelvertragliche Vereinbarungen oder nichtige betriebliche Vereinbarungen.