• Kaum zu ertragen

    ÖGD-Interview
    22.Februar 2022
    Hannover/Hildesheim
    (swa). Von den Gesundheitsämtern ist viel die Rede seit dem Beginn der Corona-Pandemie. Doch was wurde und wird nun aus den Aufgaben, für die diese eigentlich zuständig sind? Stephanie Hübner, Pressereferentin beim Marburger Bund Niedersachsen, sprach mit Dr. Bettina Langenbruch, Ärztin im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst des Gesundheitsamtes Hildesheim, über ihre Erfahrungen.
    Dr. Bettina Langenbruch (Foto: privat)
    Dr. Bettina Langenbruch (Foto: privat)

    Frau Dr. Langenbruch, wie hat die Pandemie Ihren Arbeitsalltag und den Ihrer Kolleg*innen in Niedersachsen beeinflusst?

    Bei uns in Hildesheim wurden zu Beginn der Pandemie zunächst einige Mitarbeiterinnen, vor allem Ärztinnen, mit Aufgaben des Infektionsschutzes betraut. Zum Herbst 2020 sind wir nahezu alle zur Pandemiebekämpfung abgeordnet worden. In anderen Regionen Niedersachsens war es ähnlich.

    Die originären Aufgaben im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst wurden in dieser Zeit nicht mehr erledigt. Bis Mai 2021 fanden keine Schuleingangs-Untersuchungen – SEU und keine präventiven Kindergartenuntersuchungen statt. Stellungnahmen für Kinder mit Behinderungen bzw. Eingliederungshilfebedarf wurden ausschließlich nach Aktenlage und mit großer Verzögerung erstellt. Als im Frühsommer einige Mitarbeiterinnen ihre originären Aufgaben wieder aufnehmen konnten, gelang es ihnen mit erheblichem Aufwand, bei einem Viertel der Kinder die SEU bis zu den Sommerferien durchzuführen, die anderen wurden ohne Untersuchung eingeschult.

    Was empfinden Sie als besonders gravierend?

    Nahezu alle Kolleg*innen haben erhebliche "moralische Verletzungen" erlitten: Die zwingend erforderliche sozialpädiatrische Prävention in der Breite ist jetzt im dritten Jahr in Folge nicht oder nur in Bruchstücken zu realisieren. Das hat gravierende Folgen für Schulen, Kinder und Familien – nämlich Krisen am Beginn der Bildungsbiografie, die vermeidbar wären.

    Wir erleben die blanke Not aufgrund des Personalmangels im ÖGD und die Folgen – besonders für die kommunale Kindergesundheitspflege. Das ist für uns Sozialpädiaterinnen kaum zu ertragen. Wir wissen genau, dass sich für unsere Kinder und Jugendlichen, deren Familien und die entsprechenden Einrichtungen Corona nicht nur im Infektionsschutz abbildet. Wir wissen um die massiven Folgen für Kindergesundheit durch "Corona-Kilos" und "Corona-Depression“ – wir können die dramatischen Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche sozusagen in den Quartieren und Gemeinden verorten.

    Was bedeutet das für die Betroffenen?

    Besonders fatal sind die Folgen für Kinder aus Familien, die auf eine aufsuchende und lebensraumspezifische Unterstützung angewiesen sind und die vor Schulbeginn eine gute Unterstützung und Begleitung in die Schule hinein dringend nötig gehabt hätten. Diejenigen, deren Untersuchung und Beratung wir 2021 noch realisieren konnten, sind sehr dankbar. Wir hören aber auch aus den Schulen von vollständig gescheiterten Versuchen, Kinder ohne Vorkenntnisse über deren Potenzial einzuschulen, wie es im letzten Jahr "der Not gehorchend" geschehen ist. In der Regel werden die späteren Versuche des Nachbesserns wenig Erfolg haben und die Kinder ihr Misserfolgserlebnis mit weitreichenden Folgen bereits internalisiert haben. Die Erwachsenen haben versagt – die Kinder sind jetzt die Leidtragenden. Im weiteren Verlauf werden wir uns alle um diese Folgen kümmern müssen.

    Die Netzwerkarbeit, auf die der kommunale Kinder- und Jugendgesundheitsdienst angewiesen ist, ist in den letzten zwei Jahren notgedrungen eingeschränkt gewesen und teilweise völlig zum Erliegen gekommen. Die entsprechenden Kommunikationswege wieder zu etablieren, wird viel Zeit und Mühe benötigen. Wir vom KJGD hatten uns über zwei Jahrzehnte durch gute und fundierte Arbeit bei den Kindergemeinschaftseinrichtungen einen guten Ruf erworben, den wir immer im Sinne der Kinder nutzen. Der ist nun in Gefahr: Wo wart Ihr denn, als wir Euch gebraucht hätten?

    Was bedeutet das für Sie und Ihre Kolleg*innen?

    Alle meine Mitarbeiterinnen, Ärztinnen und medizinische Fachangestellte oder sozialmedizinische Assistentinnen, haben ein hohes Ethos im Sinne der Sozialpädiatrie und einen starken inneren Antrieb, den Kindern und ihren Familien fachkundig, sorgfältig und zeitgerecht die notwendigen Hilfen zukommen zu lassen. Diesem Antrieb nicht nachkommen zu können, führt bei allen Kolleginnen zu erheblichen psycho-sozialen Belastungen, lang andauernden Erkrankungen, psycho-vegetativen Erschöpfungssituationen, Burn-Out, Depressionen bis zum Wechsel in einen anderen Arbeitsbereich oder Rückzug aus dem Arbeitsleben durch einen ursprünglich nicht geplanten vorzeitigen Ruhestand.

    Als persönliche Belastung erleben wir, dass wir schon zwei Jahre lang nicht oder nur sehr begrenzt die Arbeit tun dürfen, für die wir ausgebildet und eingestellt wurden und für die wir so gut qualifiziert sind wie sonst niemand. Unsere Arbeitskraft wird eingesetzt in Bereichen, in denen andere Fachleute tätig werden könnten. Das "Einspringen" in der ersten Welle der Pandemiebekämpfung war für alle selbstverständlich und ist mit großem Engagement geschehen. Im Verlauf wurde jedoch deutlich, dass viele alternative Möglichkeiten der externen Personalgewinnung nicht oder nur verzögert genutzt wurden.

    Was muss sich ändern?

    Bei der Umsetzung des sogenannten Paktes für den ÖGD gibt es offensichtlich erhebliche Verwaltungshemmnisse. In den kommunalen Gesundheitsverwaltungen gibt es jedoch zu wenig Personalressourcen für komplizierte Antragswege. Diese Vorgehensweisen müssten deutlich vereinfacht werden.

    Nicht nur Digitalisierung und Infektionsschutz dienen der zeitgerechten Daseinsvorsorge! Alle unterversorgten Bereiche des ÖGD müssen aus diesen Geldern Unterstützung erfahren. Und: Die KJGDs nach Corona werden sich neu aufstellen müssen, denn die Folgen für die Kinder und Jugendlichen sind in ihrer Dramatik kaum abschätzbar. Die Aufarbeitung dieser komplexen Problemlagen mangels Fachpersonal ohne sozialpädiatrische Kompetenz ausschließlich den pädagogischen Fachleuten zu überlassen, ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel und wird nicht zu einem guten Ende für Kinder und Familien führen.

    Lassen Sie uns noch über einen traurigen Dauerbrenner, die Personalsituation im ÖGD, sprechen.

    Die Not der nicht mehr zu besetzenden Stellen, insbesondere für Ärztinnen und Ärzte, ist landesweit aktuell noch größer als ohnehin im ÖGD üblich. In Hildesheim konnten sich im letzten Jahr zwei junge Kolleginnen trotz grundsätzlichen Interesses an unserer Arbeit nicht für eine Bewerbung entscheiden: wegen der vergleichsweise schlechten Bezahlung im ÖGD, aber auch, weil wir nicht sagen konnten, wann sie tatsächlich im Bereich der Sozialpädiatrie tätig würden. Wir werden niemals mit anderen Arbeitgebern um neue Mitarbeiter*innen konkurrieren können, wenn die im öffentlichen Gesundheitsdienst gezahlten Gehälter so massiv geringer sind.

    Dass die Zuständigkeit für den öffentlichen Gesundheitsdienst nach dem Zweiten Weltkrieg an die Bundesländer gegeben und von dort – insbesondere in Niedersachsen – an die Kommunen weitergereicht wurde, war in Anbetracht der schlechten finanziellen Ausstattung der Kommunen ein großer Fehler. Wenn auf Bundesebene ein ernsthaftes Interesse und Verantwortungsbewusstsein für die lebensraumbezogene und zielgruppenspezifische Sozialpädiatrie besteht und man Verantwortung für Bevölkerungsmedizin im positiven Sinne übernehmen möchte, müssen dort Standards und notwendige zentrale Inhalte festgeschrieben werden. Die Kinder- und Jugendgesundheitsdienste mit den entsprechende Fachgesellschaften sind hier gerne zum fachlichen Dialog bereit.

    Frau Dr. Langenbruch, vielen Dank für das Interview.