• MB-Mitglieder im Hilfseinsatz für die Ukraine

    „Die große Gefahr der ‚verpassten Chance‘ für eine effektive humanitäre Unterstützung“
    02.Dezember 2024
    Hannover
    Seit rund zwei Jahren engagieren sich die MB-Mitglieder Dr. Martin Schott und Dr. Dirk Hahne bei der Timotheus Gemeinde Hannover für die Hilfe ukrainischer Krankenhäuser. Hierbei ist der persönliche Eindruck vor Ort entscheidend: Um sich ein eigenes Bild zu machen, bereisten die beiden Oberärzte für Anästhesie und Intensivmedizin aus dem Diakovere Friederikenstift in Hannover bereits mehrmals die Ukraine. Wir haben mit Dr. Martin Schott gesprochen.
    Transport von 20 Paketen mit medizinischen Materialien für verschiedene Kliniken in der Ukraine (links: M. Schott / rechts: D. Hahne, Foto: privat)
    Transport von 20 Paketen mit medizinischen Materialien für verschiedene Kliniken in der Ukraine (links: M. Schott / rechts: D. Hahne, Foto: privat)

    Herr Dr. Schott, Sie engagieren sich kontinuierlich für die Unterstützung von Krankenhäusern in der Ukraine, waren bereits einige Male vor Ort. Wie kam es dazu?

    Am Anfang standen Listen mit medizinischen Materialien, die für Kliniken in der Ukraine gesucht wurden und die meine Kinder aus der Schule mitgebracht haben. Hierüber sind wir mit der ukrainischen griechisch-katholischen Gemeinde Sankt Wolodymyr in Hannover in Kontakt gekommen. Im Dezember 2022 brachten wir bei unserer ersten Fahrt einen Krankenwagen – gespendet von der Gemeinde Sankt Wolodymyr - und Material nach Lwiw. Wir sammelten erste Eindrücke und erfuhren, dass man für eine sinnvolle Hilfe, die Situation und Ansprechpartner vor Ort kennen muss. Mittlerweile waren wir im Rahmen von Transporten und dem Überbringen von Kranken- und Evakuierungsfahrzeugen schon mehrfach in der Ukraine. Bei unseren Einsätzen und unserem Engagement agieren mein Kollege Dr. Dirk Hahne und ich als Privatpersonen. Wir erfahren Unterstützung von vielen Kolleg*innen und privaten Förderern.

    Worum geht es bei Ihren Einsätzen? Welche Krankenhäuser besuchen Sie?

    Im Vordergrund steht die Kontaktaufnahme mit Ansprechpartner*innen vor Ort. Eine aktive Mitarbeit in den Krankenhäusern ist nicht Bestandteil unserer Besuche. Die Kolleg*innen dort leisten sehr gute Arbeit und benötigen uns an dieser Stelle nicht, so unsere Erfahrung. Wir haben ein Militär- und Kinderkrankenhaus in Lwiw, eine Geburts- und chirurgische Klinik sowie das Herzinstitut in Kyiv besucht, zudem die medizinische Universität in Ternopil und das dortige Simulationszentrum. Wir stehen auch mit Kliniken in Mykolajiw, Kherson, Lutsk und Tscherkassy sowie anderen Initiativen in der Ukraine und Deutschland in direktem Kontakt, vor allem über Messenger-Dienste.

    Warum ist es so wichtig, dass Sie vor Ort dabei sind?

    Grundsätzlich ist die medizinische Versorgung in der Ukraine - gerade im Hinblick auf die Kriegssituation - gesichert, aber jeder Tag kann durch Luftalarme und Engpässe von Strom neue Herausforderungen und Mangelsituationen bringen. Planbarkeit und eine allgemeine Sicherheit sind nicht gegeben. Sehr viele Städte erleben täglich mehrmals Luftalarme und viele Stromausfälle. Was bei uns selbstverständlich ist, ist in der Ukraine und gerade in frontnahen Bereichen oftmals nicht gegeben. So haben bei uns eigentlich alle Kliniken eine zentrale Gasversorgung mit Sauerstoff, diese ist in der Ukraine häufig nicht vorhanden und wäre bei Angriffen zudem durch die große Explosionsgefahr sehr gefährlich. Um Verbrauchsmaterialien sinnvoll bereitstellen zu können, müssen wir wissen: Welche Technik ist vor Ort vorhanden? Wie können technischer Service und Ersatzteile sichergestellt werden? Dies muss man vor Ort erleben, mit den Kolleg*innen besprechen und stets in Kontakt bleiben. Andere Hilfslieferungen können einen Mangel beheben, dafür kann ein Engpass an neuer Stelle auftauchen. Die Situation ist sehr dynamisch!

    Gibt es inzwischen eine Art „Normalität“ in den Krankenhäusern? Woran fehlt es?

    Am Anfang des vollumfänglichen Krieges im Februar 2022 (der Ukraine-Konflikt hat ja schon 2014 begonnen!) fehlte vieles und die Versorgungsketten mussten erst aufgebaut werden. Dies ist inzwischen geschehen und die Kliniken haben zwangsläufig ihr Tun an die aktuelle Situation angepasst. Jetzt geht es um die zielgerichtete und bedarfsorientierte Unterstützung von Kliniken, medizinischen Ausbildungszentren und engagierten Gruppen in der Ukraine. Um gute und effektive Medizin zu machen, braucht man moderne medizinische Materialien und Medikamente, keine Dinge, die wir hier nicht mehr benötigen und wegschmeißen würden, wie FFP2-Masken, Schutzkittel und alte Corona-Tests. Auch Überbleibsel aus Arztpraxen oder abgelaufene Medikamente sind nicht zielführend! Ein Mangel herrscht auch an Kranken- und Evakuierungsfahrzeugen für Verletzte. Diese sind ein vorrangiges Ziel für Angriffe und „überleben“ derzeit im Schnitt nur 30 Tage. Dennoch retten sie viele Leben. Wir unterstützen eine Gruppe aus Augsburg um den Kollegen Dr. Henryk Pich, die schon viele Fahrzeuge beschafft und in die Ukraine gebracht hat.

    Auf welche Herausforderungen stoßen Sie bei Ihren Einsätzen?

    Sicherlich die Sprache, auch wenn einige Kolleg*innen Englisch können. Das ukrainische Gesundheitswesen ist anders organisiert als unseres, mit einer anderen Geschichte und Herkunft. Natürlich sind die Wurzeln des sowjetischen Systems unverkennbar. Ukrainische Kolleg*innen und Ansprechpartner*innen vor Ort sind essenziell. Wir waren immer in Begleitung unterwegs bzw. haben Ukrainer*innen begleitet, die uns sicher durch ihr Land „gelotst“ haben. 

    Was beeindruckt Sie besonders? Gibt es auch positive Aspekte zu berichten?

    Die Situation ist für die ukrainischen Kolleg*innen und Kliniken oft alternativlos. Sie müssen improvisieren und nach alternativen Lösungen suchen, wie um durch Generatoren und Brunnen die Energie- und Wasserversorgung sicherzustellen. Die Menschen kämpfen für ihre Freiheit und ihren Weg nach Europa. Sie versuchen, in diesen Kriegszeiten Patient*innen gut zu versorgen und gleichzeitig bauen sie ihr Gesundheitssystem um, digitalisieren es und versuchen, alles EU-konform auszurichten. Viele Freiwillige unterstützen andere Menschen und sind eine wichtige Säule in dem System! Auf der anderen Seite stehen unzählige persönliche Schicksale und Begegnungen, die uns tief berühren und immer wieder zeigen, wie gut wir es hier in Deutschland haben. Eben, dass vieles nicht selbstverständlich ist, sondern auch schnell in Gefahr geraten kann.

    Aus den letzten Jahren sind Freundschaften und ein regelmäßiger direkter Austausch hervorgegangen. Aus Perspektive der Kolleg*innen versteht man viele Entwicklungen besser und kann so auch die Hilfe gezielt dorthin schicken, wo sie benötigt wird. Immer wieder werden wir direkt kontaktiert und versuchen dann schnell zu helfen, meist, indem wir Materialien und Medikamente auf verschiedenen Wegen schicken.

    Wie geht es Ihnen, wenn Sie von einem Einsatz zurückkehren?

    Die ersten Fahrten in die Ukraine waren so aufregend und mit so vielen Fragezeichen versehen, dass wir uns über die Rückfahrt im Vorfeld kaum Gedanken gemacht haben. Aber wir haben gemerkt, dass man immer mit sehr vielen neuen Erfahrungen und Bildern zurückkommt, die einen emotional sehr bewegen. Natürlich reagiert man auf Meldungen aus der Ukraine anders, wenn man die Städte und Orte persönlich kennt und weiß, was es für die Menschen bedeutet.

    Was könnte das Land Niedersachsen tun, um den Einsatz für die Helfenden zu erleichtern?

    In Deutschland ist sehr vieles auf engagierte Einzelpersonen und Gruppen zurückzuführen. Diese waren und sind sicherlich ein wichtiger Bestandteil, unter anderem im Rahmen der initialen Hilfe nach Beginn des groß angelegten Angriffskrieges Russlands. Die fehlende Vernetzung und Koordination auf kommunaler und nationaler Ebene untereinander sind deutlich hemmende Faktoren, um die notwendige Hilfe und Unterstützung der geänderten Situation anzupassen und sie effektiver und zielgerichteter zu gestalten. Es gibt einige öffentliche Verlautbarungen von Partnerschaften, aber die konkrete Umsetzung und ein proaktives, nachhaltiges und gemeinsames Wirken scheinen eher nachrangig. Beispielsweise hat Hannover eine Partnerschaft mit der Stadt Mykolajiw, das Land Niedersachsen mit der Region Mykolajiw. Eine Vernetzung dieser Initiativen ist nicht spürbar. Zielführend wäre eine nationale oder überregionale Koordinierung, so dass das gesamte Gebiet der Ukraine erfasst wird, zugleich auch kleinere Initiativen integriert werden können. Es besteht die große Gefahr der „verpassten Chance“ für eine effektive humanitäre Unterstützung der Ukraine: Mehr als 200 Kliniken, Hunderte von Schulen und ein Großteil der Energie-Infrastruktur sind bereits zerstört. Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit!

    Wann werden Sie wieder in die Ukraine reisen?

    Das steht noch nicht fest, häufig ergeben sich die Transporte und Optionen sehr kurzfristig. Viele Materialien geben wir anderen Transporten mit oder schicken sie mit Nova Post, einem privaten ukrainischen Paketanbieter, von Hannover aus direkt in die Ukraine.

    Was empfehlen Sie ärztlichen Kolleg*innen, die ebenfalls über einen Hilfseinsatz nachdenken?

    Wir haben die Erfahrung gemacht, dass nicht primär die ärztliche Mitarbeit vor Ort benötigt wird. Es gibt Organisationen, die vor Ort arbeiten und sicherlich gute Ansprechpartner sind, zum Beispiel „Cadus“ oder „Ärzte ohne Grenzen“. Über eine Zusammenarbeit mit Personen beziehungsweise Gruppen, die sich bereits für die Ukraine engagieren oder künftig aktiv werden wollen, freuen wir uns natürlich.

    Wie werden das Projekt und die Hilfseinsätze finanziert?

    Zusammen mit der evangelischen Kirchengemeinde Timotheus in Hannover haben wir eine Spenden-Kampagne bei Betterplace.org gestartet, um als gemeinnützige Organisation auch selbst Spenden sammeln und damit selbstständig agieren zu können. Wir bekommen auf der einen Seite von Kolleg*innen und Kliniken viele Sach- und Materialspenden. Auf der anderen Seite ermöglichen uns diese Geldspenden, gezielt benötigte Materialien und Medikamente zu kaufen und in die Ukraine zu schicken, so beispielsweise im Februar 2024 eine Kinder-Simulationspuppe für das Ausbildungszentrum in Ternopil.

    Weiterhin sammeln wir auch Spenden für die Kranken- und Evakuierungsfahrzeuge und deren Transport. Bis jetzt kamen aus rund 360 Spenden bereits über 63.000 Euro zusammen (Stand Nov. 2024), davon wurden über 50.000 Euro schon wieder für Materialien, Medikamente, Porto und Fahrzeuge ausgegeben und sind somit gewissermaßen direkt in der Ukraine angekommen.

    Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

    Natürlich, dass dieser Krieg ein Ende findet und Russland damit keinen Erfolg hat. Damit verbunden, dass die Ukraine als selbständiges Land bestehen bleibt und die Menschen in Sicherheit und Freiheit leben können. Im zweiten Schritt, dass die ukrainische Gesellschaft mit all den Binnenflüchtlingen, Flüchtlingen im Ausland, Soldaten und Zivilisten mit schwersten psychischen und/oder körperlichen Traumata einen Weg findet, mit diesen Kriegstraumata umzugehen und wieder ein normales Leben zu leben. Aber ich wünsche mir auch, dass wir Deutschen begreifen, dass wir unsere Freiheit und Lebensform aktiv gestalten und verteidigen müssen!

    Mehr zum Projekt und Spendenmöglichkeit: https://www.betterplace.org/de/projects/128009-medizinische-hilfe-fuer-die-ukraine

    Das Interview führte Anna Dierking, MB Niedersachsen.