Über die Hälfte der angestellten Ärztinnen und Ärzte in Schleswig-Holstein (56 Prozent) arbeitet mehr als die im Rahmen der EU-Arbeitszeitrichtlinie vorgesehene Höchstgrenze von durchschnittlich 48 Stunden in der Woche. Das ergab die repräsentative Befragung „MB SH Überblick 2016: Arbeitsbedingungen und berufliche Situation“, die im Auftrag des Marburger Bundes Landesverband Schleswig-Holstein vom Institut für Qualitätsmessung und Evaluation (IQME) durchgeführt wurde.
38 Prozent der Befragten arbeiten 49 bis 59 Stunden pro Woche inklusive Überstunden und Bereitschaftsdienste. Jeder Sechste der Befragten kommt auf eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von mehr als 60 Stunden. Zwei Prozent der Befragten geben an, mehr als 80 Stunden pro Woche zu arbeiten. „Arbeitszeitrechtliche Bestimmungen sollen vor allem die Gesundheit der Beschäftigten schützen. Überlange Arbeitszeiten und fehlende Pausen gefährden nicht nur die Gesundheit der Ärztinnen und Ärzte, sondern können auch ein Sicherheitsrisiko für die Patienten darstellen. Kostendruck und eine dünne Personaldecke können keine Entschuldigung dafür sein, gesetzliche Vorschriften zu missachten“, mahnt Dr. Henrik Herrmann, Vorsitzender des Marburger Bundes Schleswig-Holstein. Die Ärztegewerkschaft fordere gleichzeitig die staatlichen Arbeitsschutzbehörden auf, die Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Vorschriften in Krankenhäusern regelmäßig zu prüfen.
Aus Sicht des Marburger Bundes Schleswig-Holstein ist als Folge genauso kritisch, dass ein Viertel der Ärztinnen und Ärzte (24 Prozent) die Frage verneint, ob sämtliche Arbeitszeiten systematisch erfasst werden. Die elektronische Zeiterfassung über eine Stechuhr als objektive Form der Zeiterfassung erfolgt nur bei 13 Prozent der Ärztinnen und Ärzte. Daraus resultiert auch das Ergebnis, dass ein Viertel (25 Prozent) der Ärztinnen und Ärzte erklärt, dass ihre Überstunden weder vergütet noch mit Freizeit ausgeglichen werden.
„Die Ärztinnen und Ärzte in Schleswig-Holsteins Kliniken stellen eine tragende Säule unseres Gesundheitssystems dar. Sie haben ein Anrecht darauf, dass ihre Leistung ordnungsgemäß dokumentiert und vergütet wird. Voraussetzung dafür ist ein transparentes und manipulationsfreies Arbeitszeiterfassungssystem in allen Abteilungen“, sagt Dr. Henrik Herrmann.
89 Prozent fühlen sich überlastet
In den letzten Jahren hat sich die Arbeit von Klinikärzten stark verdichtet, die Personaldecke im ärztlichen Bereich wird immer dünner. Zudem wächst der Dokumentationsaufwand, was die Zeit für die Arbeit am Patienten zusätzlich verringert. Personalmangel und zunehmende Arbeitsverdichtung belasten auch in Schleswig-Holstein 89 Prozent der angestellte Ärztinnen und Ärzte. Am meisten überlastet fühlen sich Ärztinnen und Ärzte, die am Beginn ihrer beruflichen Laufbahn stehen (93 Prozent), gefolgt von den stellvertretenden Chefärzten (90 Prozent), Fachärzten (87 Prozent) und Oberärzten (86 Ärzten). Mit 74 Prozent fühlen sich die Chefärzte deutlich weniger überlastet als ihre Kollegen. „Die Anforderungen an die heutige Ärzte-Generation haben sich gewandelt. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens hat die wirtschaftliche Rahmensituation erheblich verändert. Das führt nicht nur zu einer allgemein hohen Belastung des Systems an sich, sondern auch zu einer hohen Arbeitsbelastung der Ärztinnen und Ärzte“, sagt Dr. Henrik Herrmann.
Als Ursache für die Überlastung nennen die Befragten mehrere Gründe: Als Hauptgrund sehen 83 Prozent den bestehenden Personalmangel. Dreiviertel der Ärztinnen und Ärzte (73 Prozent) nennt als Ursache auch die Arbeitsverdichtung, während sich fast zwei Drittel (58 Prozent) ebenso durch Organisationsmängel überlastet fühlen.
Überwiegend jüngere Ärzte unzufrieden
Immer weniger Klinikärztinnen und -ärzte sind bereit, diese Dauerbelastung hinzunehmen. Nur 61 Prozent der Befragten sind mit ihrem derzeitigen Arbeitgeber zufrieden, jeder Zweite bis Dritte ist es hingegen nicht. Während sich kaum Unterschiede im Ausmaß der Zufriedenheit zwischen den Geschlechtern zeigt (37 Prozent der Ärztinnen und 41 Prozent der Ärzte sind unzufrieden mit ihrem Arbeitgeber), spielt die berufliche Position eine Rolle. Grundsätzlich zeigt sich, dass mit sinkender ärztlicher Hierarchieposition auch die Zufriedenheit mit dem Arbeitgeber sinkt. So sind Ärzte, die sich in Weiterbildung befinden im Durchschnitt unzufriedener mit ihrem Arbeitsplatz (43 Prozent) als beispielsweise Oberärzte (37 Prozent), welche wiederum ihren Arbeitsplatz im Durchschnitt negativer bewerten als Chefärzte (27 Prozent). Aus der Arbeitsunzufriedenheit ergibt sich eine erhöhte Wechselbereitschaft der Ärztinnen und Ärzte: 41 Prozent der Befragten denken darüber nach, ihre derzeitige Tätigkeit aufzugeben. „Die Zahlen bergen ein echtes Risiko für das Unternehmen Krankenhaus. Häufig ist es qualifiziertes Personal, das den Arbeitsplatz wechselt. Es besteht also dringender Handlungsbedarf für die Krankenhäuser, ihre Arbeitsplätze im ärztlichen Dienst unter Arbeitnehmer-Attraktivitätsgesichtspunkten zu prüfen und zu optimieren. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich der Ärztemangel in den nächsten Jahren fortsetzen wird“, sagt Dr. Henrik Herrmann.
Ähnlich kritisch wie bei der Zufriedenheit mit dem Arbeitgeber sind die Ärztinnen und Ärzte, wenn es darum geht, ob sie ihren Arbeitgeber weiterempfehlen würden. In dieser Kategorie haben 58 Prozent ein gutes Wort für ihr Haus eingelegt, 42 Prozent würden ihren Arbeitgeber jedoch nicht weiterempfehlen. Selbst bei den Chefärzten, bei denen im Allgemeinen davon auszugehen ist, dass diese bessere Gestaltungsmöglichkeiten in ihrer Tätigkeit haben, würden 22 Prozent ihren Arbeitgeber nicht weiterempfehlen. „Das Ergebnis ist alarmierend und zeugt von einer hohen Frustration“, so Dr. Henrik Herrmann.
Mängel in der Weiterbildung
Nach der ärztlichen Weiterbildungsordnung soll die Weiterbildung in strukturierter Form erfolgen „unter Anleitung befugter Ärzte in praktischer Tätigkeit und theoretischer Unterweisung.“ In der Realität scheint das unter den aktuellen Arbeitsbedingungen der schleswig-holsteinischen Ärzte anders zu sein. Mehr als zwei Drittel der Ärzte (70 Prozent) geben an, dass an ihrer Klinik die Struktur für die Weiterbildung fehle. Ebenso kritisch fällt die Antwort auf die Frage aus, ob die geforderten Weiterbildungsinhalte ausreichend vermittelt werden. Zwei Drittel
(57 Prozent) verneinen diese Frage. „Eine strukturierte Weiterbildung sichert die Qualität der ärztlichen Berufsausübung und ist wesentliche Voraussetzung für die Qualität in der Patientenversorgung. Junge Ärztinnen und Ärzte dürfen nicht im Alltagsgeschäft der Kliniken verschlissen werden. Die Kliniken sind aufgefordert die ärztliche Weiterbildung durch ausreichende Zeitkontingente sicherzustellen.“