Von Dr. Andreas Botzlar, 2. Vorsitzender des Marburger Bundes
Viele Räder stehen still bei der Deutschen Bahn. Was für eine Zumutung, mag man denken. Noch dazu während der Reisezeit, während der ¬Covid-19-Pandemie und wo doch so viele auf die Bahn angewiesen sind. Ist die Bahn nicht am Ende sogar Teil der Daseinsvorsorge?
Die wahre Zumutung aber sind die Einlassungen verschiedenster, jeweils von Eigeninteressen geleiteten Akteure, die den aktuell von der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer gegen die Bahn geführten Arbeitskampf begleiten. Es liegt in der Natur der Sache: Ein Arbeitskampf bringt Nachteile für Betroffene mit sich, die weder ursächlich für die im Streit stehende Angelegenheit verantwortlich sind, noch gar direkt Abhilfe schaffen können. Ein Streik jedoch, den niemand merkt, wird auch nichts bewirken. Aus gutem Grund genießt das Streikrecht den besonderen Schutz unseres Grundgesetztes und ist explizit auch von Einschränkungen im Gefolge vieler Arten der Gefahrenabwehr ausgenommen. Eine besondere Situation ist sonst stets nur allzu schnell gefunden. Zudem hat die Frage, ob verlässlich verkehrende Züge zur Daseinsvorsorge gehören, herzlich wenig interessiert, als es vor Jahren darum ging, aus der Deutschen Bahn eine Aktiengesellschaft zu machen, die mit ihrem Gewinn zu den Staatseinnahmen beitragen sollte. Ein Umstand, den wir aus Krankenhäusern nur zu gut kennen. Wenn es um die Vorhaltung einer bedarfsgerechten Infrastruktur oder um den Einsatz der Versichertengelder für die Krankenversorgung und die Entlohnung der Mitarbeiter geht und nicht zu Befriedigung von noch so berechtigten Renditeerwartungen, sind die Verantwortlichen bei der Frage nach der Daseinsvorsorge schon längst über alle Berge.
Zurück zum Streikrecht. Niemand habe die Absicht, Hand ans Arbeitskampfrecht zu legen – so sang einstimmig der Chor der Väter des Tarifeinheitsgesetzes (TEG) 2015. Wahr und unwahr zugleich. Aufgrund der korrekten Einschätzung, eine Änderung des Arbeitskampfrechtes würde niemals die erforderliche gesetzgeberische Mehrheit erreichen können, hatte man ein Konstrukt ersonnen, mit dem gleichwohl missliebigen Spaten- und Minderheitsgewerkschaften der Arbeitskampf untersagt werden können sollte. Ein Streik für einen Tarifvertrag, der später nicht zur Anwendung kommen werde, sei a priori unverhältnismäßig und könne untersagt werden – so die Hoffnung. Das Bundesverfassungsgericht sah dies bekanntlich anders: Jede Gewerkschaft hat das Recht, sich auch mittels eines Arbeitskampfs durchzusetzen. Welche Gewerkschaft die Mehrheitsgewerkschaft ist und welcher Tarifvertrag daher gilt, wird gegebenenfalls anschließend festgestellt.
Die Tarifeinheit diene dem Wohl der Gesamtbelegschaft, so eine weitere abgedroschene Leier. Und eine Farce, weil die Bezugsgröße „Betrieb“ von Arbeitgebern jederzeit willkürlich kreiert und umgeformt werden kann. Da spielt es nur noch eine untergeordnete Rolle, ob sich Gewerkschaften bei der Bahn in mehr als 300 oder weniger als 175 „Betrieben“ organisieren müssen, während es dem Arbeitgeber unzumutbar erscheint, sich mit zwei Gewerkschaften ausei¬nan¬derzusetzen. Für die – nach eigener Anschauung und nach Arbeitgeberauffassung – in der Rolle der Mehrheitsgewerkschaft Agierenden ergibt sich jedoch die bequeme Lage, selbst keine wesentlichen Verbesserungen durchsetzen zu müssen. Beim Arbeitgeber ist man so lieb Kind, und die Mitglieder hält man sich gewogen, indem man per Meistbegünstigungsklausel Erfolge der virulenten und lästigen Konkurrenz zu den eigenen macht. Für die Minderheitsgewerkschaft geht es dagegen um nicht weniger als die Existenz!
Eine derartige Eskalation wäre ohne das süße Gift des TEG niemals zustande gekommen. Süßes Gift deshalb, weil das TEG den Interessen aller Beschäftigten langfristig schadet. Ist die lästige Konkurrenz erst erledigt, holt niemand mehr für die Belegschaft die Kohlen aus dem Feuer.
Daher sollte zuallererst das TEG auf das Abstellgleis für missglückte Gesetze rollen, dann können uns die Züge der Deutschen Bahn auch wieder verlässlich ans Ziel bringen.