Herr Dr. Schultze, ist die wissenschaftsbasierte Medizin in Gefahr?
AS: Nein, sie ist nicht grundsätzlich in Gefahr, aber es gibt die eine oder andere Herausforderung zu bewältigen. Auch wenn wir im ärztlichen Alltag viel mit Erfahrungswissen arbeiten, brauchen wir eine fortlaufende, evidenzbasierte Weiterentwicklung der Medizin. Durch Wissenschaft verbessern sich auf phänomenale Weise die Möglichkeiten, Patientinnen und Patienten zu behandeln. Es ist wichtig, dass alle Ärztinnen und Ärzte als Teil der Weiterbildung die Kompetenz erwerben, neue wissenschaftliche Daten einzuordnen.
Eine wichtige Grundlage für wissenschaftsbasierte Medizin bilden große kontrollierte Studien. Diese kosten viel Geld. Sind Behandlungsoptionen potenziell profitabel, findet sich oft Geld aus der freien Wirtschaft. Doch bei Fragestellungen, deren Beantwortung vor allem einen medizinischen und weniger einen wirtschaftlichen Vorteil bietet, sind oft staatliche Mittel notwendig.
Welche Rolle spielt hier die Ärztekammer?
AS: Studien an Menschen können nicht einfach so durchgeführt werden. Im Vorfeld ist eine ethische Abwägung durch die inhaltlich unabhängige Ethikkommission der Ärztekammer Hamburg unabdingbar. Uns ist es gelungen, die Zeiten der Antragsbearbeitung zu verkürzen und insgesamt mehr Serviceorientierung zu etablieren.
Außerdem wollen wir uns dafür stark machen, Zeiträume für wissenschaftliches Arbeiten und Forschungstätigkeit in der Weiterbildung in klar definiertem Umfang auch als Teil der Weiterbildung anzuerkennen. Denn genau diese Kompetenzen sind unerlässlich dafür, dass wissenschaftsbasierte Medizin gelebt werden kann.
Frau Dr. Dr. Semmusch, Sie sind Ärztin in Weiterbildung und Sprecherin der kardiologischen Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung am Albertinen Krankenhaus. Wo sehen Sie aktuell Herausforderungen?
SS: Der Druck auf Ärztinnen und Ärzte darf nicht dazu führen, dass die Weiterbildung zu kurz kommt und z.B. Rotationen oder OP-Zeiten darunter leiden. Und auch die Bürokratie des ärztlichen Arbeitens müssen wir so reduzieren, dass wir wieder mehr Zeit für Patientinnen und Patienten haben.
Ich finde einen strukturierten Ablauf der Weiterbildung in den Abteilungen wichtig für mehr Planungssicherheit. Es muss möglich sein, einen Facharztstandard zum Ende der Weiterbildungszeit innerhalb der regulären Arbeitszeit zu erreichen und dabei auch mal ein Fachbuch aufzuschlagen oder eine Fortbildung zu besuchen.
Die Medizin steht nie still. Deshalb gilt es, Inhalte der ärztlichen Weiterbildung dynamisch anzupassen und Themen wie Planetary Health, Ernährungsmedizin, Gendermedizin oder Künstliche Intelligenz gegenüber offenzubleiben.
Die Zeit der ärztlichen Weiterbildung ist auch oft die Zeit der Familienplanung. Wie will sich der MB für die Interessen und Anliegen von Eltern einsetzen?
SS: Schon 2007 hat der MB die Kampagne für ein familienfreundliches Krankenhaus ins Leben gerufen. Und als Gewerkschaft setzen wir uns schon lange für finanzielle und zeitliche Freiräume für eine gute Weiter- und Fortbildung ein.
Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung selbstverständlich ist, damit auch junge Eltern weiter gerne im Krankenhaus arbeiten. Dafür braucht es flexiblere Arbeitsmodelle, planbare Arbeitszeiten sowie beispielsweise den Ausbau der Kinderbetreuung mit Öffnungszeiten, die zu ärztlichen Arbeitszeiten passen. Und wir sollten die Möglichkeiten von Homeoffice im Bereich des ärztlichen Alltags evaluieren. Es gibt jedoch kein Konzept, das man auf jedes Krankenhaus und jede Abteilung übertragen kann. Deshalb ist es so entscheidend, den Dialog mit allen Beteiligten zu suchen.
Zum Schluss: Wie kommt die Umsetzung der neuen WBO in Hamburg voran?
AS: Die formalen Beschlüsse zur Umsetzung der WBO sind alle gefasst. Jetzt geht es darum, sie mit Leben zu füllen. Neu ist die Fokussierung auf Kompetenzen und Fähigkeiten, nicht nur auf Richtzahlen. Das eröffnet Freiheiten z.B. auch in Bezug auf Weiterbildungsstätten und -zeiten. Nun beginnt die Vergabe der Befugnisse nach den neuen Kriterien. Auch die Einführung des elektronischen Logbuchs ist bereits gut angelaufen. Künftig wollen wir die Möglichkeiten der Digitalisierung zudem dazu nutzen, die tatsächliche Qualität der Weiterbildung zu evaluieren – und noch weiter zu verbessern.