In den vergangenen rund 20 Jahren ist die Zahl von Nachwuchsmedizinerinnen und -medizinern kontinuierlich gestiegen, weit mehr als die Zahl ausscheidender Ärztinnen und Ärzte. „Es gibt also immer mehr ‚Köpfe‘ im System“, betonte Björn Döring, Direktor der apo Bank Filiale Hamburg Elbe in seinem Impulsvortrag. „Allerdings arbeiten die Nachrücker vorzugsweise angestellt, auch im ambulanten Bereich.“ Hier seien vermehrt Teilzeitlösungen gefragt, weshalb trotz steigender Kopfzahlen das effektive Versorgungsangebot pro Patient zurückgehe.
Warum ein Anstellungsverhältnis für viele deutlich attraktiver als die Niederlassung zu sein scheint, ist für die ältere Generation nicht immer ganz nachvollziehbar. So erinnerte sich Dr. Gudrun Schittek, gesundheitspolitische Sprecherin der Hamburger Bürgerschaftsfraktion Die Grünen und niedergelassene Gynäkologin an ihre eigene Entscheidung für die Selbstständigkeit in eigener Praxis: „Ich wollte selbstbestimmt arbeiten, es ging mir um eine andere Qualität der Arbeit.“ Auch heute biete die Arbeit in der eigenen Praxis – ein gutes und eingespieltes Team vorausgesetzt – die Möglichkeit, die persönlichen Arbeitszeiten flexibel und familienfreundlich zu gestalten, betonte sie und ermunterte junge Kolleginnen und Kollegen: „Trauen Sie sich das ruhig zu!“
Doch die Zahlen, die Dr. Jochen Kriens, Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KVHH), hierzu parat hatte, sprechen eine andere Sprache: „Wir haben in Hamburg rund 5.000 KV-Mitglieder, die in 3.200 Praxen arbeiten. Davon sind 36% angestellt, die übrigen selbstständig.“ Allerdings wachse die Bedeutung Medizinischer Versorgungszentren für die Versorgung: „MVZ machen nur 5% der Einrichtungen aus, übernehmen aber inzwischen 20% der gesamten Versorgung“, erklärte Dr. Kriens. Der damit einhergehende Bedeutungsverlust der ärztlichen Selbstverwaltung bereite ihm ebenso Sorgen wie der aktuell zu beobachtende Konzentrationsprozess.
Politik zeigt wenig Interesse
Die zunehmende Zentralisierung der medizinischen Versorgung ist auch Dr. Pedram Emami, 1. Vorsitzender des Marburger Bundes Hamburg und Präsident der Ärztekammer Hamburg ein Dorn im Auge. Für ihn sprechen bereits die Überschriften der aktuellen Gesetzesvorhaben für sich: „Notfallversorgung, Krankenhausreform – die ambulante Versorgung taucht da nur am Rande auf“, kritisierte er. Es entstehe der Eindruck, dass die ambulante Medizin immer stärker institutionalisiert werden soll. Doch durch diesen Prozess werde die flächendeckende und wohnortnahe Versorgung ausgedünnt, um die Deutschland vielerorts beneidet wird. So werde in politischen Diskussionen zwar häufig für das dänische Modell geworben. Doch als Vorbild taugt es für Dr. Emami eher nicht: „Dänemark hat damit eine Kostendämpfung erreicht, doch die spezialisierte fachärztliche Versorgung ist inzwischen nur noch an wenigen Zentren angesiedelt.“ Ziel dürfe aber nicht nur die Lebensverlängerung durch Medizin sein, sondern vielmehr auch die Lebensqualität der Bevölkerung. „Dazu gehört eine Versorgung da, wo sie gebraucht wird – und unser Land ist wohlhabend genug für diese sogenannte ‚doppelte Facharztschiene‘“, meinte Dr. Emami unter dem Beifall des Publikums.
Zunehmender Einfluss von Finanzinvestoren
Das fehlende Transparenzregister ärgert auch die Grünen-Politikerin Dr. Schittek: „Patientinnen und Patienten sollen wissen, mit wem sie es zu tun haben und wer der Träger einer Einrichtung ist.“ Dies gelte insbesondere, wenn die Investoren hinter großen MVZ-Ketten Unternehmensbeteiligungen halten und beispielsweise in die Entwicklung Digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) investieren, die in ihren MVZ dann verschrieben werden. „Das sind Interessenskonflikte, die zumindest ein Geschmäckle haben“, meinte die Gynäkologin. Auch Dr. Emami kritisierte den zunehmenden Einfluss von Finanzinvestoren, der die ärztliche Freiberuflichkeit und Entscheidungsfindung gefährde. „In den 1990er Jahren sind bereits die Krankenhäuser kommerzialisiert worden. Warum schlagen wir im ambulanten Bereich nun sehenden Auges den gleichen Weg ein?“, gab Dr. Emami zu bedenken.
Dr. Ulrich Wandschneider, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes der Betreiber medizinischer Versorgungszentren (BBMV) und damit als Vertreter der kritisierten privatwirtschaftlichen Träger auf dem Podium, stimmte in vielen Punkten zu. So monierte er ebenfalls, dass im politischen Berlin allzu oft nur in städtischen Dimensionen gedacht wird, während die Versorgung im ländlichen Raum aus dem Blick gerät. Und auch er kritisierte die zunehmende Zentralisierung der medizinischen Versorgung.
Doch ebenso nachdrücklich betonte Dr. Wandschneider, dass es die ‚Rosinenpickerei’, die MVZ oft vorgeworfen wird, in Fachbereichen wie der Radiologie oder der Dialysemedizin bereits vor Aufkommen der MVZ gegeben hat. Des Weiteren führte er aus, dass auch Fehlverhalten im gesamten Gesundheitswesen unabhängig von der Trägerschaft der Einrichtungen auftrete. Er wünschte sich mehr Aufsicht für alle und forderte, investorengeführte MVZ nicht länger pauschal zu verurteilen.
Niederlassungswillige Ärztinnen und Ärzte sehen das allerdings oft anders. „Ich konkurriere beim Kauf aber mit sehr finanzkräftigen Investoren, die viel höhere Preise zahlen können“, meldete sich ein derzeit angestellter Gastroenterologe zu Wort. Dr. Emami und Dr. Kriens waren sich deshalb einig, dass die Selbstverwaltung mehr Gestaltungsspielraum benötigt, auch was die Rahmenbedingungen und die Preisfindung bei Praxisabgaben angeht. Das Schlusswort hatte der 1. Vorsitzende des MB Hamburg. Er zeigte sich überzeugt, dass der dringend notwendige Wandel nur auf einem Weg gelingen kann: „Wir brauchen mehr ehrliche Selbstkritik – in allen Gesellschaftsbereichen.“
Von Antje Thiel