• „Wir haben den Luftalarm ignoriert“

    Dr. Vanessa Zink begleitete vier Woche lang Verletztentransporte nahe der ukrainischen Front
    31.Mai 2023
    Helfen im Kriegsgebiet: Vier Wochen lang war MB-Mitglied Dr. Vanessa Zink aus Frankfurt als Volunteer für die NGO Cadus in der Ukraine im Einsatz. Sie würde es jederzeit wieder machen, sagt sie.

    Nach acht Jahren im Berufsleben, einer Zeit, die nicht immer von dem Gefühl begleitet war, etwas Sinnvolles zu tun, wollte Vanessa Zink die Zeit nach ihrer Weiterbildung zur Allgemeinmedizinerin nutzen, um etwas zu tun, „was mir das Gefühl von Sinnhaftigkeit gibt“, so die 35-Jährige. Sie bewarb sich deshalb bei verschiedenen Organisationen. Unter anderem auch bei „Ärzte ohne Grenzen“ und bei Sea-Watch. Der Zeitfaktor hat dann mit entschieden, denn im Juni heiratet die Schwester der jungen Ärztin und da wollte Vanessa Zink natürlich wieder zurück sein. „Bei Cadus hat es am schnellsten und unkompliziertesten geklappt.“ Die Hilfsorganisation mit Sitz in Berlin setzt in ihren Projekten auf Innovation, Nachhaltigkeit und den Aufbau bedarfsorientierter lokaler Kapazitäten und engagiert sich dort, wo Hilfe fehlt oder sich andere Hilfsorganisationen zurückgezogen haben. Mit Cadus hatte Vanessa Zink bereits vor drei Jahren Kontakt aufgenommen, als die NGO noch in Syrien aktiv war. „Doch dann habe ich wieder angefangen zu arbeiten.“ Aber der nette und zuverlässige Kontakt blieb der jungen Frau in Erinnerung.

    Dr. Vanessa Zink

    Cadus konzentriert sich gerade ausschließlich auf die Ukraine und setzt dort zwei Projekte um: zum einen Patiententransporte, sogenannte MedEvacs (medical evacuations), und Erste-Hilfe-Kurse, die den Schwerpunkt auf Trauma-Erstversorgung legen, für Helferinnen und Helfer anderer Organisationen und für die Bevölkerung, um sie auf ihre Einsätze vorzubereiten. „Unsere Basis war in Dnipro, das liegt im Südosten der Ukraine, 120 bis 150 Kilometer von der Front entfernt. Ich habe im Team mit einer Rettungssanitäterin und Paramedics gearbeitet und wir hatten die Aufgabe, Patienten zu verlegen.“ Verwundete Soldaten werden in sogenannten trauma stabilization points, die etwa fünf Kilometer von der Front entfernt sind, erstversorgt. Große Blutungen werden gestoppt, Fixateure gesetzt und Erstoperationen im Bauch- und Brustbereich sowie bei Amputationsverletzungenen durchgeführt, sodass die Verwundeten bis zum Erreichen des Krankenhauses stabil sind. Der Transport zum Krankenhaus gehörte zu den täglichen Aufgaben von Vanessa Zink und ihrem Team. An einem Treffpunkt zwischen der Front und Dnipro trafen sie sich mit den Militärtransportern und haben dort die Patienten in ihren Rettungswagen umgeladen oder in einen speziell von Cadus umgebauten Bus, der es ermöglicht mehrere Patienten auf einmal – auch liegend und beatmet − zu transportieren. Vormittags und nachmittags brachten sie außerdem Patienten, die zweitversorgt waren, vom Krankenhaus in Dnipro zum Bahnhof, wo sie in einem Evakuierungszug weiter in den Westen der Ukraine gebracht werden, um dort weiter versorgt werden zu können. Aber nicht nur Verwundete begleitete Vanessa Zink auf ihrem Transport, sondern auch erkrankte Soldaten, die an Lungenentzündung oder Erfrierungen litten und damit nicht mehr dienstfähig waren. Auch zivile Transporte übernahm die deutsche Ärztin mit ihrem Team.

    „Mein Job ist im Vergleich zum Job der Soldaten deutlich einfacher“

    Trotz der großen Kommunikationsbarriere und der äußeren Umstände empfand Vanessa Zink die Patienten, die sie betreut hat, als sehr freundlich und dankbar. „Nicht viele Soldaten sprechen Englisch – meist nur die Jüngeren − und ich kann kein Ukrainisch oder Russisch. Ich habe ein paar Brocken Ukrainisch gelernt, aber damit kommt man nicht weit.“ Sie kann auf Ukrainisch fragen, ob jemand Schmerzen hat, ob ihm warm oder kalt ist und ob er Durst hat. „Die Kommunikationsbarriere war anfangs sehr schwierig für mich, da die Allgemeinmedizin ein sprechendes Fach ist und wenn ich nicht mit meinem Patienten sprechen kann, kann ich nicht die mir bestmögliche Medizin leisten.“ Aber sie gab ihr Bestes. „Die Soldaten waren immer sehr dankbar für das, was wir für sie taten. Ich habe immer versucht ihnen etwas zurückzugeben. Schließlich ist das für ganz Europa gefährlich, was dort gerade passiert. Und mein Job ist im Vergleich zum Job der Soldaten deutlich einfacher.“ Viele der Soldaten waren erschöpft und erleichtert, erst einmal in Sicherheit zu sein. Viele sprachen aber schon wieder davon, nach der Genesung zurück an die Front zu gehen. „Sie sehen es als ihre Aufgabe, ihr Land zu verteidigen.“

    „Hier in Deutschland habe ich oft Patienten, die schnell jammern und Therapie einfordern. Wir haben auch ein anderes Behandlungskonzept. Wir informieren Patienten darüber, was wir machen und fragen um Erlaubnis. In der Ukraine hatte ich das Gefühl, dass die Behandlung dort noch so abläuft wie bei uns vor ein paar Jahrzehnten: Der Arzt entscheidet, was das Beste für den Patienten ist und dieser akzeptiert das einfach. Und gerade im militärischen Bereich gibt es ja strikte Hierarchien. Es kam vor, dass die Soldaten nicht einmal wussten, wo wir sie hinbringen, bis wir sie darüber aufklärten.“

    Triage-Kärtchen nur mit Hilfe des Google-Übersetzers verstanden

    Erstaunt hat Vanessa Zink die Zurückhaltung der Soldaten bezüglich der Einnahme von Schmerzmitteln. „Meist haben sie erst bei der dritten Nachfrage zugestimmt. Da habe ich gelernt, auch etwas bestimmter zu werden, weil ich es als Ärztin nicht ertragen kann, wenn meine Patienten Schmerzen haben, obwohl ich etwas dagegen tun kann.“ Außerdem waren die Straßen nicht besonders gut ausgebaut und die Transporte dauerten zwei bis zweieinhalb Stunden. „Das ist zehrend.“

    Die Soldaten hatten Schuss- und Splitterwunden, Verbrennungen, Wirbelsäulenverletzungen, Knochenbrüche und Gehirnerschütterungen. Sie kamen mit einem Triage-Kärtchen zu Vanessa Zink, das auf Ukrainisch ausgefüllt war. „Je nachdem wie die Schrift aussah, konnte man das mit dem Google-Übersetzer übersetzen.“ Außerdem war auf den Kärtchen noch ein stilisierter Körper abgebildet und Felder zum Ankreuzen mit beispielsweise Schusswaffen- oder Kälte-Symbolen, „sodass wir wenigstens teilweise erahnen konnten, welche genauen Verletzung der Patient hat“.

    „Ich war mir am Anfang nicht sicher, ob ich medizinisch leisten kann, was von mir verlangt wird.“ Aber viele Gespräche mit ihrer Vorgängerin halfen. Sie berichtete: Die Soldaten seien sehr gut erstversorgt, sie seien stabil. Und so erlebte es auch Vanessa Zink. „Die Erstversorgung dort war super. Soldaten kamen auch nach Amputationen stabil zu uns – und das am gleichen Tag. Wir mussten nicht mehr machen als überwachen und Schmerzmittel geben. Ich glaube, wenn Soldaten mit solchen Kriegsverletzungen in unsere Kliniken kämen, würden sie nicht so gut behandelt, weil uns dafür einfach die Erfahrung fehlt.“

    Um etwas über die Erstversorgung von Kriegswunden dazuzulernen, hätte Vanessa Zink es durchaus interessant gefunden, einen Erstversorgungspunkt zu besuchen, „aber als Zivilist, der keine kriegerische Erfahrung hat, möchte ich nicht an die Front gehen“. Für die Hilfsorganisation Cadus ist die Sicherheit ihrer Volunteers sehr wichtig. Dafür bietet sie zahlreiche Online-Briefings für die Teilnehmenden an. Neben Themen rund um die Sicherheit werden dort aber auch der andere hilfreiche Themen besprochen wie die Ausstattung der eigenen Unterkunft oder Tipps im Umgang mit der Presse. „Das war auch ein Grund, warum ich mich für Cadus entschieden habe. Ich hatte das Gefühl, dass ich in guten Händen bin, wenn ich in die Ukraine fahre, auch weil ich den Teamlead und die anderen Volunteers schon vorher in Online-Treffen kennen gelernt habe.“

    „Das alltägliche Leben ist erstaunlich normal“

     „Das alltägliche Leben ist erstaunlich normal“, beschreibt die junge Ärztin ihren Eindruck von der Ukraine. „Das wird uns in den Medien so nicht gezeigt. Was ich dort vorher mitbekommen habe, war ausschließlich Kriegsgeschehen – nicht das alltägliche Leben.“ Sie ist „ganz normal“ mit den anderen Volunteers aus ihrem Team, die aus Deutschland, den USA, Großbritannien und Neuseeland kamen, abends essen gegangen oder in den Supermarkt zum Einkaufen. „Die Supermärkte sind dort genauso ausgestattet wie bei uns.“ Aber einen ganz entscheidenden Unterschied gibt es doch: Fünf bis acht Mal am Tag schallte der Luftalarm über die Stadt Dnipro. „Aber er wurde von niemandem beachtet. Denn wenn nichts einschlägt, funktioniert das Luftabwehrsystem. Wir haben es also ignoriert.“ Die Menschen dort sind seit einem Jahr im Krieg und haben sich daran gewöhnt, eine Art „Kriegsroutine“ entwickelt. „Allein medizinisch betrachtet, ist es nicht möglich, dass man die ganze Zeit mit einem so hohen Adrenalinspiegel und auf so einem Anspannungslevel lebt. Der Körper reguliert sich herunter. Wir Menschen sind große Modelllerner und wenn die Menschen in Deiner Umgebung so entspannt reagieren, dann bist Du selbst entspannt.“

    Während ihres Aufenthalts sei es aber im Vergleich auch „erstaunlich ruhig“ gewesen. Im Januar war Dnipro von deutlich mehr Luftoffensive betroffen gewesen, da wurde auch ein Wohnhaus in der Stadt getroffen und 46 Zivilisten starben. Vanessa Zink erlebte nur einen Tag, an dem sie Explosionen hörte und auch zwei Raketen in der Stadt einschlugen – „aber eher in den Randbezirken“.

    Cadus hat in Dnipro für die Volunteers ein Wohnhaus gemietet. „Das Team war super cool.“ Den Austausch untereinander empfand Vanessa Zink als sehr bereichernd. „Die Medizin ist ja in jedem Land unterschiedlich.“ Die Volunteers waren tagsüber immer in Bereitschaft und haben auf ihre Einsätze gewartet, die zu sehr unterschiedlichen Zeiten hereinkamen. Der Arbeitsalltag war „nicht besonders stressig“. Die Wartezeit dazwischen verbrachten die Volunteers in ihrer Unterkunft und nutzten die Zeit für ganz alltägliche Beschäftigungen wie Sport, Einkaufen, Kochen und Lesen.

    Der Krankentransporter startet.

    Das tatsächliche Helfen stand im Vordergrund

    Vier Wochen war Vanessa Zink in der Ukraine, von Mitte Februar bis Mitte März. Und das Resümee:  „Es war ein bisschen wie eine Zeitreise, denn das medizinische System dort ist wie bei uns vor dreißig oder vierzig Jahren, auch streng hierarchisch. Es war interessant, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer anderer NGOs kennen zu lernen, wo auch viele Ukrainerinnen und Ukrainer tätig sind. Der Eindruck des Lebens und der Menschen vor Ort ist das, was bleibt. Und ich glaube, ich habe etwas Sinnvolleres gemacht als ich oft hier mache, weil einem das System so viele Steine in den Weg wirft, was sehr frustrierend ist. In der Ukraine stand nicht das Wirtschaftliche im Vordergrund, sondern die Patienten und tatsächlich das Helfen.“

    Nun überlegt Vanessa Zink die Zusatzbezeichnung klinische Notfallmedizin zu absolvieren und dafür für eine Zeit wieder zurück in die Klinik zu gehen, „was ich mir vorher nicht vorstellen konnte. Aber die Allgemeinmedizin ist mir teilweise zu langweilig und ich lerne gerne.“ Auf die Frage, ob sie so einen Hilfseinsatz noch einmal machen würde, antwortet sie: „Ich würde gerne bei der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer helfen, da versagen wir als Europäer gerade grandios. Ich bin bereits im Ärzte-Pool von Sea-Watch aufgenommen und sobald das Schiff freigegeben wird, könnte es losgehen.“

     

    Mehr zur NGO Cadus und ihrer Hilfe in der Ukraine lesen Sie hier: https://www.cadus.org/de/projekt/nothilfe-in-der-ukraine