• Mit einem Betriebskindergarten wird die Klinik noch nicht familienfreundlich

    Sie arbeiten alle am Universitätsklinikum Gießen Marburg (UKGM) in Marburg, sie sind alle im Frühsommer 2023 in die Delegiertenversammlung der Landesärztekammer Hessen gewählt worden und sie engagieren sich alle für das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Denn aus eigener Erfahrung wissen Dr. Gertrud und Dr. Simon Schmich und Dr. Susanne Betz, welchen Herausforderungen man sich stellen muss, wenn man nicht nur als Ärztin oder Arzt tätig ist, sondern auch Kinder hat.
    Dr. Susanne Betz

    Sie setzen sich für das Thema „Beruf und Familie“ ein, wie erleben Sie „ein familienfreundliches Krankenhaus“ in Ihrem Alltag? Und von welchen Erfahrungen berichtet Ihr Umfeld?

    Susanne Betz: Man hat im Alltag das Gefühl, dass „familienfreundliches Krankenhaus“ nur eine Plakette ist, die sich die Häuser gerne an die Tür hängen. Viele Kliniken denken, sie seien familienfreundlich, wenn sie einen eigenen Betriebskindergarten unterhalten. In der Realität erleben wir aber, dass diese Kita-Plätze bei weitem nicht ausreichen und die Öffnungszeiten nicht dem Arbeitsalltag der Ärztinnen und Ärzte entsprechen und schon gar nicht dem der Pflegenden. Vor allem die jungen Kolleginnen und Kollegen, die sich noch in der Weiterbildung befinden und im Schichtdienst arbeiten, sind davon stark betroffen.

    Simon Schmich: Das sehe ich auch so. Es werden Eltern, die Beruf und Familie unter einen Hut bekommen wollen, schnell aufs Abstellgleis gestellt, nicht mehr gefördert und auch nicht mehr befördert. Hier geht sehr viel ungenutztes Potential verloren.

    Gertrud Schmich: Bislang ist die Arbeit als Ärztin und Arzt im Krankenhaus nicht besonders familienfreundlich: Vom Mitarbeitenden wird ein hohes Maß an Flexibilität erwartet, sei es bei spontanen Überstunden oder bei kurzfristig zu übernehmenden Diensten. Gleichzeitig ist die Arbeit für den Mitarbeitenden nicht flexibel, falls zum Beispiel kurzfristig Kinderbetreuung notwendig wird. Viele Ärztinnen und Ärzte mit Familie wechseln nach unseren Erfahrungen deshalb in die Niederlassung.

     

    Was muss sich aus Ihrer Sicht in der Klinik ändern, damit Privatleben und Beruf besser vereinbart werden können?

    Susanne Betz: Wir brauchen flexible Arbeitszeitmodelle, die wir individuell anpassen können. Dafür müssen sich aber auch alle Organisations- und Arbeitsstrukturen ändern, damit die restliche Arbeit nicht an den wenigen Vollzeitstellen hängen bleibt – so ging es mir ja auch viele Jahre, bevor ich Mutter wurde. Gerade in der jetzigen Zeit mit akutem Fachkräftemangel ist es notwendig, flexibel, digital und individual zu denken. Wir brauchen eine entsprechende Betreuungsabdeckung für die Kinder und das auch zu nicht üblichen Öffnungszeiten.

    Gertrud Schmich: Das stimmt. Das Teilzeit-Arbeitsmodell muss etabliert werden. Es muss möglich sein, dass man auch nur halbe Tage bis zum Mittag oder frühen Nachmittag arbeitet und nicht nur immer volle Tage. Der Feierabend zu einer bestimmten Uhrzeit muss sichergestellt sein.

     

    Hat sich Vereinbarkeit von „Familie und Beruf“ in den letzten Jahren im Krankenhaus gewandelt? Und wenn ja, wie?

    Gertrud Schmich: Früher hat in der Regel nur ein Elternteil gearbeitet,  während sich das andere um die Familie gekümmert hat. Das hat dazu geführt, dass das Gehalt wichtig war und weniger die Planbarkeit der Arbeit. Heute arbeiten häufig beide Partner, so dass jeder Dienstplan schwierige Verhandlungen wegen Kinderbetreuung und Familienzeit nach sich zieht.

    Simon Schmich: Deshalb ist die Initiative des Marburger Bundes, zeitliche Vorgaben zur Dienstplanerstellung zu fordern, so wichtig.

    Susanne Betz: Wir haben in den letzten Jahren viel erreicht, weil wir anders über das Thema Beruf und Familie nachdenken und es bei den Chefärztinnen und -ärzten sowie den Klinikdirektorinnen und -direktoren angekommen ist. Und vor allem wird positiver damit umgegangen. Aber an den Klinikstrukturen hat sich noch nichts geändert. Dadurch hat sich das Endergebnis eigentlich verschlechtert, denn es wird mehr Eltern- und Teilzeit genehmigt, aber dadurch steigt die Arbeitsbelastung der Kolleginnen und Kollegen.

     

    Welche Aufgabe hat die Kammer dabei?

    Susanne Betz: Gute Aus- und Weiterbildung und Mutterschaft darf sich nicht ausschließen. Die Kammer muss sich darum kümmern, dass Weiterbildung in flexiblen Modellen möglich ist. Die Mindestvorgaben für Weiterbildung müssen deutlich reduziert werden, auch da müssen wir flexibler denken. Der Fokus muss mehr auf den Kenntnissen und Erfahrungen liegen und nicht auf dem Zeitfaktor. Diesen zu erfüllen, wird mit Familie schwierig. Wir sind da schon auf einem guten Weg. Beim Thema Schwangerschaft braucht es dringend die geplante Positivliste, die aufzeigt, wo Schwangere ohne Gefahr für das Ungeborene und sich selbst arbeiten können, für die alltägliche Arbeit, aber auch für die Aus- und Weiterbildung. Damit wir – gerade bei dem derzeitigen Fachkräftemangel – die Kolleginnen weiter qualifizieren können.

    Simon Schmich: Um mehr Gerechtigkeit bezüglich der Weiterbildungszeit zu schaffen und auch Teilzeit attraktiver zu gestalten, sollte eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden als Berechnungsgrundlage für die Weiterbildungszeit dienen; ansonsten ist die Arbeitszeit an der Uni weniger wert als an kommunalen Häusern. Außerdem sollte die Ärztekammer auf das Versorgungswerk einwirken, damit für die Zeit des Mutterschutzes, in der ein Beschäftigungsverbot besteht, eine Fortzahlung der Rentenbeiträge erfolgt. So kann die Versorgungslücke der Mütter reduziert werden.

    Gertrud Schmich: In den Köpfen der Verantwortlichen muss endlich ankommen, dass doppelte Berufstätigkeit heutzutage normal ist und man nicht mehr ausschließlich für den Job leben kann.

     

    Wofür wollen Sie sich in den kommenden fünf Jahren einsetzen? Welche Themen haben zu wenig Beachtung gefunden?

    Susanne Betz: Ich finde, dass sich unsere Kammer noch mehr mit Themen auseinandersetzen muss, die in die Politik gehen. Damit wir mit dem wenigen Gewicht, das wir dort haben, trotzdem etwas verändern können. Dafür möchte ich mich einsetzen, außerdem für die Themen Sicherstellung und Strukturanpassung in der Notfallversorgung sowie Vereinbarkeit von Beruf und Familie in der Aus- und Weiterbildung.