Der Marburger Bund bereitet eine Verfassungsbeschwerde gegen die Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vor, die der Bundestag im November 2022 beschlossen hat. Die Beschwerde richtet sich gegen Verfahrensregelungen bei aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandenen überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten (§ 5c IfSG).
„Aus Diskussionen mit vielen Mitgliedern, vor allem solchen, die auf Intensivstationen und in Notaufnahmen arbeiten, wissen wir, dass die Gesetzesänderung zu Verunsicherungen auch im Hinblick auf mögliche strafrechtliche Konsequenzen geführt hat. Es geht dabei im Wesentlichen um die Frage, ob die in Paragraf 5c IfSG aufgestellten Anforderungen an Triage-Entscheidungen und Regelungen wie z. B. das Verbot der sogenannten Ex-post-Triage mit der grundrechtlich geschützten ärztlichen Therapiefreiheit kollidieren, die das Überleben möglichst vieler intensivpflichtiger Patienten zu erreichen versucht“, erläuterte heute Dr. Susanne Johna, 1. Vorsitzende des Marburger Bundes, die Beweggründe des Verbandes.
„Ärztinnen und Ärzte fühlen sich selbstverständlich dem Diskriminierungsverbot im Genfer Ärztegelöbnis verpflichtet, das der ärztlichen Berufsordnung vorangestellt ist. Mit dem Ausschluss der Ex-post-Triage gilt aber das vom Bundesverfassungsgericht geforderte Kriterium der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit bei begrenzten überlebenswichtigen Behandlungskapazitäten nur eingeschränkt. Es kann dazu führen, dass Menschen mit höherer Überlebenswahrscheinlichkeit sterben, weil sie keine intensivmedizinischen Ressourcen bekommen, die ein anderer Patient mit aktuell deutlich schlechteren Überlebenschancen hat. Wenn in solchen Extremsituationen wie einer ressourcensprengenden Pandemie wegen der vom Bundestag beschlossenen Gesetzesänderung keine Intensivkapazitäten mehr frei gemacht werden können, werden Patienten mit vergleichsweise guter Prognose, die vielleicht auch aufgrund von nichtinfektiösen Erkrankungen passager beatmet werden müssen, konsekutiv versterben. Das widerspricht unserem ärztlichen Ethos und dem Grundrecht der Berufsfreiheit“, sagte Johna.
In einer Mangelsituation aufgrund übertragbarer Krankheiten mit unzureichenden Behandlungskapazitäten ist die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit das entscheidende Kriterium für die Zuteilung medizinischer Ressourcen. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 16. Dezember 2021 klargestellt (1 BvR 1541/20).
Das Kriterium der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit muss für alle Patienten gelten, die die knappe Behandlungsressource brauchen.