Als im vorigen Sommer ein russischstämmiger Kollege zusehen musste, wie seine Frau und sein Kind in den Fluten des Hochwassers ertranken, habe ich gedacht, wie grausam ist das Leben. Ein Mensch flieht mit seiner Familie aus dem Osten, weil er sich bei uns eine bessere Zukunft erhofft. Dann wird ihm alles geraubt, was er liebt.
Aber wie grausam ist manchmal auch der Mensch. Was tut sich die Menschheit nicht alles selber an? Obwohl, hat sie dies nicht immer getan? Dieser Angriffskrieg ist zwar eine Zäsur in der jüngeren Weltgeschichte, aber Putin hat auch zuvor in Tschetschenien, Georgien und Syrien brutale Kriege geführt. Das war weit weg. Jetzt erkennen wir, mit welcher Skrupellosigkeit und Brutalität er seine hegemonialen Ziele verfolgt.
Und wo stehen wir als Ärzteschaft gemeinsam? Was ist unsere Aufgabe jetzt? Corona hatte uns in den letzten Monaten täglich im Griff gehalten. Auf meiner Intensivstation haben neben mir Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte aus der Ukraine und Russland gestanden. Gerade zwischen ihnen sind oft Freundschaften entstanden. Sie haben Seite an Seite, ja Hand in Hand gearbeitet.
Wir sind längst eine multikulturelle Gesellschaft. Und das ist gut und richtig so. In unserem Krankenhaus arbeiten ägyptische, syrische, libische, jordanische, griechische, rumänische und türkische Kolleginnen und Kollegen.
Der neue Krieg aber gibt einigen von uns eine neue Last auf. Ich erlebe die Angst meiner Kollegen um ihre Verwandten und Freunde auf beiden Seiten der Front. Ich erlebe auch die Unsicherheit darüber miteinander sprechen zu können. Unsere Kolleginnen und Kollegen brauchen jetzt unsere persönliche Rücksichtnahme und Zuwendung.
Haben wir bei den vielen zu uns geflüchteten Kolleginnen und Kollegen in den letzten Jahren wirklich immer daran gedacht? Die meisten von Ihnen sind zu uns gekommen, weil sie sich bei uns für sich und ihre Kinder eine bessere Zukunft erhofften und oft auch gerade für ihre Eltern eine bessere medizinische Versorgung.
Sie alle haben uns oft von Mängeln und Versorgungslücken in ihren Heimatländern berichtet. Auch in der Ukraine und in Russland. Der ein oder andere wird sich erinnern, dass wir gerade nach Tschernobyl 1986 unsere ausrangierten medizinischen Geräte, Medikamente und Hilfsmittel an beide jetzige Kriegsparteien „gespendet“ haben. Oft organisierten auch Ärztinnen und Ärzte beider Länder von hier aus Hilfe für ihr Geburtsland.
Und immer schon habe ich unsere Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine und in Russland dafür bewundert, wie sie mit oft einfachen Mitteln das tun, was uns auszeichnen sollte und was wir im Genfer Gelöbnis niedergelegt haben: „Ich werde den höchsten Respekt vor menschlichen Leben wahren. Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktor zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.“
Hierzu braucht es nicht nur die ärztliche Kunst, sondern in letzter Konsequenz insbesondere den Mut, sein eigenes Leben zu riskieren. Ob ich es könnte? Ob wir es alle könnten? Ich weiß es nicht. Aber Kolleginnen und Kollegen in beiden Ländern zeigen gerade in diesen Tagen wieder einmal, wozu Ärzte fähig sind, wenn sie an dieses Gelöbnis glauben. Ich denke da an den Krankenhausarzt in Kiew, der während Gefechtsalarm zu hören ist, im deutschen Fernsehen sagt, dass sie nicht in den Bunker gehen, da Sie ihre Patienten nicht verlassen wollen.
Ich denke an die russischen Ärztinnen und Ärzte die namentlich und öffentlich Putin auffordern den grausamen Krieg zu beenden, obwohl sie wissen, dass ihnen nun die Verhaftung und ein Berufsverbot drohen. Wieder zeigen Kolleginnen und Kollegen aus Kriegs- und Krisengebieten: Arzt zu sein ist mehr als ein Beruf. Wir kennen ihre Namen nicht, aber ihr mutiges Handeln sollte Vorbild für uns alle sein.
Nicht jeder von uns würde in ein Kriegsgebiet fahren. Nicht jeder von uns wird sein Leben einsetzen müssen – Gott sei Dank. Aber Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse darf niemals zwischen uns treten. Weder zwischen uns, noch zwischen uns und unsere Patienten.
Begegnen wir uns bitte mit Respekt und stehen wir füreinander ein – egal woher wir stammen. Denken wir aber auch bitte daran, wenn demnächst viele Flüchtlinge etwa aus der Ukraine eine neue Heimat bei uns suchen. Bieten wir ihnen unsere Hilfe – gerade unseren geflüchteten Kolleginnen und Kollegen. Stehen wir für einander ein – stets mit dem nötigen Respekt!
Dr. med. Hans-Albert Gehle, Vorsitzender des MB NRW/RLP