Er habe es sich zuvor nicht vorstellen können, bilanzierte am Ende der Debatte der DKG-Präsident Thomas Reumann, mit dem KBV-Vorsitzenden Andreas Gassen mal an einem Tisch sitzend in vielen Punkten übereinstimmender Meinung zu sein: „Herr Gassen, ich hätte nicht gedacht, dass eine Podiumsdiskussion mit Ihnen so verläuft und wir uns mal einig sind. Es könnte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft werden“, zitierte Reumann aus seinem Lieblingsfilm, dem 1942 gedrehten Kultfilm „Casablanca“, die legendären Schlussworte von Humphrey Bogart.
Gewiss ist, vor einem halben Jahr wäre eine derart sachliche Debatte noch nicht möglich gewesen. Die zwischenzeitlich vom Marburger Bundes gemachten Vorschläge zur integrativen Versorgung mündeten in diesem Sommer in einen konstruktiven Dialog zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem Marburger Bund.
Fazit: Aus ärztlicher Sicht benötigen wir ein koordinierteres Vorgehen, eine bessere Zusammenarbeit und mehr Integration – genau das unterstreicht das neue, gemeinsame Konzept der KBV und des Marburger Bundes. Wir werden künftig in Versorgungsnetzwerken denken müssen. Dabei werden Krankenhäuser eine ganz zentrale Rolle spielen müssen, weil es sonst keiner macht, waren sich die Referenten einig.
Nach entsprechender Kritik betonte KBV-Chef Dr. Andreas Gassen in der Diskussion, dass der Sicherstellungsauftrag der KVen durchaus erfüllt werde: „Wir bieten den Dienst an, aber das Problem ist, dass sich der Patient im System nicht entsprechend verhält.“ Der Patient sei völlig frei, welche Wege er geht. „Das gibt es sonst nirgendwo auf der Welt. Der Patient definiert damit letztlich den Notfall. Das ist unser Problem. Wir müssen ihn „sanft“ in die richtige Versorgungsebene führen“, erklärte Gassen. „Wir können das tollste System haben, aber es nützt uns nichts, wenn es nicht funktioniert. Auch wir Vertragsärzte werden uns an die eigene Nase fassen müssen. Es ist völlig klar, wir müssen da alle liefern!“ Er erwarte keine Jubelrufe bei den Vertragsärzten.
Einen bundesweiten Überblick bot vorab Dr. Hendrik Herrmann, 1. Vorsitzender des Marburger Bundes Schleswig-Holstein: „Seit Monaten berichten Medien von überfüllten Notaufnahmen im Land. Jährlich werden etwa 20 Millionen Notfallpatienten in den 1.785 Kliniken, die an der Notfallversorgung teilnehmen, stationär und ambulant versorgt. Davon 60 Prozent ambulant“, bilanzierte. „Zehn bis 20 Prozent davon waren lebensbedrohlich erkrankt. Die Zahl der Notfälle steigt um vier bis neun Prozent im Jahr, vor allem bei den Selbstvorstellern. Sie stieg hier um 37 Prozent. 43 Prozent der Notfälle könnten vom ambulanten Notdienst behandelt werden. Dr. Hendrik Herrmanns Schlussfolgerung: „So kann es nicht weitergehen.“
„In Schleswig-Holstein haben wir die Zukunft schon teilweise hinter uns.“ Flächendeckend gebe es Anlaufpraxen an Kliniken seit 2007. Es gibt regional unterschiedliche, bedarfsorientierte Öffnungszeiten, einen fahrenden Dienst der Vertragsärzte. Mehrere „Ein-Tresen“-Modelle seien realisiert und die Planung echter „Portalpraxen“ laufe. Dr. Herrmann erläuterte ausführlich die Eckpunkte des gemeinsamen Konzeptpapiers des Marburger Bundes und der KBV.
Weitere Einblicke in die von den Mitgliedern erlebte Realität: „Viele Notfallpraxen schließen um 22 Uhr“, erinnerte Adalbert Büttner aus Bielefeld. „Richten Sie den Fokus bei Reformen bitte stärker auf die Dienstzeiten“, denn zu dieser Zeit arbeiteten die meisten Krankenhäuser mit einer stark reduzierten Besetzung. „Dennoch, die großen Notfallpraxen an Kliniken erfüllen meist ihre Aufgaben“, unterstrich Dr. Lydia Berendes, Vorsitzende des MB-Bezirks Linker Niederrhein. „Unsere Patienten haben eine unheimlich hohe Anspruchshaltung.“
„Wir müssen evaluieren, wie sieht die Versorgung vor Ort aus, was besteht eigentlich?“ Dies griff auch Dr. Karl-Heinz Kurfess aus Koblenz auf, „wir müssen Notfallpraxen auf die regionale Ebenen runterbrechen“. In Rheinland-Pfalz versorgten die Kliniken bereits 80 Prozent des Landes. Kurfess forderte, die weithin doch noch unbekannte Telefonnummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes 116 117 intensiver zu bewerben. Dem stimmte Andreas Gassen zu, „aber wir brauchen eine Gesetzesänderung, um diese Nummer auch bundesweit schalten zu können“. Das Problem liegt mitunter im Detail.
Der Delegierte Dr. Daniel Krause aus Köln plädierte dafür, dass bei der Notfallversorgung ein „einheitliches Niveau der Versorgung definiert werden müsste. Was bekommt der Patient, was nicht?“ Und müssten es wirklich immer Ärzte sein, die Notfallpatienten versorgen? „Eine echte Notfallversorgung kann nicht von den jüngsten Kolleginnen und Kollegen gemacht werden“, erwiderte Andreas Gassen. „Wer im 5. Jahr der Weiterbildung ist, der hat sicher durchaus ausreichend Erfahrung, aber jemand im ersten Jahr? Das halte ich für schwierig.“ Ohne mehrjährig berufserfahrene, speziell fortgebildete Fachpflegekräfte würde das System nicht funktionieren. „Wir schulen unsere Mitarbeiter“, verwies auch Markus Baacke auf Handlungsnotwendigkeiten.
„Wie wollen Sie die kritische Frage, was ist ein Notfall, was nicht lösen“, fragte Dr. Bernd-Karl Hanswille aus Dortmund Dr. Jochen Jansen, der ein Referat über die Notfallversorgung in den Niederlanden hielt und sich überzeugt zeigte, dass 95 Prozent der Notfälle von nichtärztlichen Mitarbeiter „gesteuert“ werden könnten. „Wie soll das hierzulande gehen, wenn doch heute schon qualifiziertes pflegerisches und ärztliches Personal fehlt. Der in den Niederlanden gebräuchliche Begriff „Paramediziner“ sei ein „debütant negativer Begriff hierzulande“, bemerkte Hanswille.
„Bei uns in den Niederlanden funktioniert das System. Die Niederlande haben zudem ein knallhartes Qualitätsmanagement“, antwortete Jochen Jansen. Mitunter seien schon ganze Klinikabteilungen über Nacht geschlossen worden, als gravierende Mängel festgestellt würden. „Sie sind gut beraten, sich einem Qualitätsmanagement zu unterwerfen, sonst wird man dem unterworfen“, empfahl Jansen. „Und Sie dürfen den Patienten nicht alleine lassen. Wir legen am Telefon erst auf, wenn er in einer Notfallpraxis angekommen ist. Wir instruieren u.a. auch die Notfall-Melder, Patienten zu reanimieren.“
In dem Nachbarstaat gibt es übrigens keine doppelte Facharztstruktur und der Hausarzt ist ein wesentlicher „Gatekeeper“ im Notfallsystem. Alle Akteure nutzen ein Triage-System. „Ohne offizielle Überweisung des Hausarztes oder ärztlichen Notdienstes kommen sie gar nicht in die 2. und 3. Ebene unserer Versorgung“, betonte Jochen Jansen. Für 700.000 Einwohner rund um Maastricht stünden nur 25 Rettungswagen bereit. „Aber die nicht alle gleichzeitig. Das wäre für Deutschland sicher undenkbar“, weiß Jochen Jansen.“ Ein Blick auf die Kostenseite im Nachbarstaat sollte aber auch nicht vergessen werden: In den Niederlanden zahlen Krankenversicherte nur 180 Euro im Monat. Ist die Versorgung in den Niederlanden unter dem Strich besser? „Wir erleben regelmäßig Medizintourismus aus den Niederlanden“, gab Dr. Sven Dreyer aus Düsseldorf zu bedenken. Das sei eher ein Problem der zu langen Wartezeiten in den Niederlanden, nicht der Qualität, meinte Jochen Jansen.
Bei allen Vergleichen mit der Notfallversorgung anderen Ländern bat DKG-Präsident Thomas Reumann zu bedenken, keine Rosinenpickerei zu betreiben: „Wir stellen uns gerne der Diskussion, aber dann sollte man immer auch das gesamte Gesundheitssystem andere Länder betrachten, welche Vorteile hat es, welche Nachteile hat es und was kostet der Umbau? Für uns ist es wichtig zu klären, was brauchen wir regional? Auf der Hallig Hoge sieht der Bedarf doch ganz anders aus als in Köln.“ Wir brauchen aber sicher keine 2.200 Krankenhäuser in Deutschland und keine 1.600 Notfallversorger darunter, entfuhr es an dieser Stelle Andreas Gassen.
Quintessenz aller Referenten in der Debatte: Bei der Finanzierung der Notfallmedizin sei eine Dritte Säule nicht nötig, ohnehin sei sie nicht bezahlbar. „Über die Zahl der benötigten Kliniken werden wir uns heute sicher nicht einig“, unterstrich am Ende Dr. Hans-Albert Gehle. „Wir müssen mit unserem gemeinsamen, integrativen Konzept der Notfallversorgung jetzt an die Politik gehen. Wir müssen alle Modelle in Deutschland sammeln, prüfen und in allen Bereichen neu denken. Wir sollten uns vor allem gegenseitig respektieren. Nur wenn wir gemeinsam auftreten, können wir auch die nötigen Änderungen erreichen.“