Das zu bewältigende Versorgungspensum ist immens: Jährlich behandeln Kliniken und Notfallambulanzen der Kassenärztlichen Vereinigungen Westfalen-Lippe in Gelsenkirchen rund 160.000 Patienten. „Zweidrittel werden in den Kliniken versorgt. Diese Zahl steigt seit Jahren, aber nicht nur im Ruhrgebiet und auch nicht nur bundesweit, sondern ins ganz Europa“, bilanziert Dr. med. Klaus Rembrink, Vorsitzender des Verwaltungsbezirks Gelsenkirchen/Bottrop der KV Westfalen-Lippe.
Schwer erklärlich sei, dass „40 Prozent zu den Sprechstundenzeiten der niedergelassenen Kollegen in die Krankenhäuser gehen“. Rembrink spricht von „Fehlleitung“ der Patienten, teils aus Unkenntnis, „teils aus Zeitgründen, oder, weil man glaubt, in Kliniken eine höhere Kompetenz vorzufinden“. In Kliniken könne man Kapazitäten „freimachen“, ist sich Klaus Rembrink sicher.
Fakt ist: „Wir bilanzieren eine erhebliche Zunahme der Notfallpatienten. Wahrscheinlich wird es 20 Jahre brauchen, bis grundlegende Wandel der Patientenströme auch tatsächlich umfassend beschritten werden“, betonte Dr. med. Arnold Greitemeier, Vorsitzender des Verwaltungsbezirks Gelsenkirchen/Bottrop der Ärztekammer Westfalen-Lippe.
Er sieht mit großer Sorge der angekündigten Schließung des St. Josef-Hospital in Gelsenkirchen-Horst entgegen. „Welche Konsequenzen wird das auf die Notfallversorgung haben? Wir haben schon jetzt in Gelsenkirchen eine Bettenauslastung, die über 90 Prozent liegt. Die Auslastung der verbleibenden Kliniken wird weiter steigen. Es könnte sich sogar eine sehr brisante Situation entwickeln, denn nachweislich steigt ab dieser Grenze die Zahl der Komplikationen“, warnt Arnold Greitemeier. Der zuständige Bezirksbürgermeister zeigte sich im Plenum dankbar, dass sich der Marburger Bund mit der Schließung befasst. „Uns fehlt die Fachkompetenz. Wir müssen kämpfen, dass die Klinik erhalten bleibt.“
Die Bilanz der Feuerwehr in Gelsenkirchen untermauert die Dimension des Notfall-Problems: In Gelsenkirchen sind zwölf Rettungswagen, drei Notarztwagen, vier Krankenwagen und zwei Sonderrettungswagen für Babys und schwergewichtige Patienten im Einsatz. „Wir fahren täglich im Jahresschnitt 100 Einsätze. Im März waren es aber schon 130. Das ist ein enormer Start. Bisher haben wir jährliche Einsatz-Steigerungen von fünf bis sieben Prozent. Eine Trendwende ist nicht in Sicht. Immerhin, wir schaffen es noch, in den geforderten acht Minuten vor Ort zu sein“, erklärt Simon Heußen, Abteilungsleiter Gefahrenabwehr und Rettungsdienst der Berufsfeuerwehr Gelsenkirchen.
Als Gründe nennt Simon Heußen die Veränderungen im KV-System und auch die gestiegenen Erwartungshaltungen in der Bevölkerung. „Zweifellos haben die Bürger den Wechsel der Notfallrufnummer 116 117 nicht mitbekommen.“ Aber auch die Bequemlichkeit der Bürger und fehlende familiäre Bindungen seien enorm, meint Simon Heußen. „Wir treffen oft im Einsatz auf Notfälle, die ihre Tasche schon längst gepackt haben.“
„Kirchturmdenken bringt uns nicht weiter“, appellierte Dr. med. Hans-Albert Gehle. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die Deutsche Krankenhaus Gesellschaft (DKG) forderten stets das Geld des anderen. „Ich kenne keinen Klinikarzt, der sagt, ich habe noch Luft nach oben. Wir arbeiten alle am Limit und wünschen uns händeringend Entlastung.“
Was dürfen Patienten in Not erwarten? „Wir sollten die Patienten mit ihren Sorgen immer ernst nehmen. Ein Patient googelt zu Hause zum Beispiel seinen Brustschmerz und stößt auf ganz viele schlimme Erklärungen.“ Hans-Albert Gehle unterstreicht weiter, dass viele Kliniken die umstrittene Neuregelung, die Klinikärzte in Notfallambulanzen nur zwei Minuten Zeit lässt, um zu klären, ob ein echter Notfall vorliegt, nicht durchführen.
„Das ist richtig, denn diese Regelung ist schlicht unethisch und gar nicht praktizierbar! Als Klinikarzt kann ich diese Aufgabe auch nicht mit einer Abklärungspauschale von 4,75 Euro lösen, auch der Kollege in der Praxis kann das nicht. Da droht uns doch eine Klageflut der Patienten.“
Es ist gefährlich, wenn der Eindruck entsteht, keiner will noch Notfallpatienten behandeln. Wir brauchen sektorübergreifende, neue Konzepte zur Notfallversorgung. Es ist nicht praktikabel, dass ich als Klinikarzt nicht auf die Behandlungsdaten des Notfallpatienten zugreifen kann, die in der Praxis gegenüber vorliegen. Das versteht auch kein Patient. Zurzeit haben viele Patienten aber das Gefühl, auf der einen Straßenseite mehr Leistung zu bekommen als auf der anderen.“
„Wenn ein Patient Schmerzen und Druck in der Brust beklagt, was würden sie da als Arzt machen?“ Ein berufserfahrener niedergelassener Arzt räumte spontan und unumwunden ein: „Den würde ich sofort in die nächste Klinik schicken, denn in dem Fall sind meine Fähigkeiten doch schlicht überfordert.“