Marburger Bund: Am Freitag kommender Woche enden die Kammerwahlen 2019? Welche Erwartungen haben Sie?
Rudolf Henke: „Ich werbe überall für eine hohe Wahlbeteiligung, denn jede einzelne Stimme zählt. Wir brauchen eine starke und durch demokratische Wahlen legitimierte und bestätigte Selbstverwaltung. Bei allen unterschiedlichen Zielsetzungen sollten wir uns nicht täuschen, die Politik, die Krankenkassen und übrigens auch die Arbeitgeber nehmen sehr genau wahr, wie die Beteiligung der mehr als 62.500 Ärztinnen und Ärzte für unsere Ärztekammer Nordrhein ausfällt. Nicht zu wählen, ist immer die falsche Entscheidung.“
Marburger Bund: Gut 5.800 junge Ärztinnen und Ärzte wählen 2019 zum ersten Mal. Die jungen Ärzte nehmen erfahrungsgemäß bisher nur selten an der Wahl teil. Tut die Ärztekammer zu wenig für sie?
Rudolf Henke: Nein! Wer in den Beruf einsteigt, hat erst einmal andere Sorgen, als sich um seine berufliche Vertretung zu kümmern. Wir ziehen ja durch die Fakultäten und stellen schon im Studium die Ärztekammer vor. Trotzdem riecht Ärztekammer immer noch zu sehr nach Bürokratie. Junge Ärztinnen und Ärzte nehmen erst einmal die Pflicht zur Anmeldung und die Einstufung zu Mitgliedsbeiträgen wahr. Die kommen und wollen mein Geld. Nicht so populär. Was wir für die Ärzteschaft tun, welchen Service wir bieten, sieht man erst nach und nach. Und wenn man keinen von den Kandidaten kennt, wen soll man dann wählen? Auch so ein Problem. Aber noch einmal: nicht zu wählen, überlässt anderen die Entscheidung.
Marburger Bund: Sie haben bei der Eröffnung der Fortbildungswoche auf Norderney auf die lange Tradition der Solidarität in der Ärzteschaft hingewiesen. Mangelt es heute daran manchmal?
Rudolf Henke: Ich denke, vielen von uns sind Demokratie, Gewaltenteilung und Selbstverwaltung schon sehr selbstverständlich geworden. Manchen auch zu selbstverständlich. Man sieht dann vielleicht die Gefahren nicht oder hinterfragt auch nicht, was wäre denn eigentlich, wenn wir das selbstverständlich Geglaubte verlieren? „Meistens belehrt erst der Verlust uns über den Wert der Dinge“, sagte einst Arthur Schopenhauer. Da ist etwas dran. Deshalb ist es auch so wichtig, sich bei den laufenden Kammerwahlen doch noch aktiv zu beteiligen.
Wenn wir als Ärzteschaft bei allen künftigen Herausforderungen stark auftreten wollen in den nächsten Jahren, dann brauchen wir dafür ein starkes demokratisches Fundament. Als Ärztekammer haben wir ein viel stärkeres Gewicht, wenn die Wahlbeteiligung weiter steigt.
Marburger Bund: Vor 200 Jahren haben hierzulande Ärzte für den Aufbau einer ärztlichen Selbstverwaltung gekämpft, was war einst so anders?
Rudolf Henke: Gar nicht so viel. Blicken wir auf die damaligen Themen – sie kommen uns heute gut bekannt vor: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die meisten Ärzte im öffentlichen Auftrag tätig. 48 Prozent der Ärzte waren 1827 beim Staat angestellt, der ihr Honorar regelte und sie zur Behandlung der Armen verpflichtete. Es gab schon damals Zulassungsbeschränkungen.
Es gab seinerzeit keine einheitliche Ausbildung, kein einheitliches Berufsbild, sondern den beim Barbier ausgebildeten, praxisorientierten Wundarzt und den akademisch ausgebildeten Arzt, der für die Innere Medizin zuständig war. Es gab dauerhaft Auseinandersetzungen beider Berufsgruppen.
Das und die Gründung der gesetzlichen Krankenkassen führte letztendlich zur Bildung der Ärztevereine. Man wollte sich frei von staatlicher Gängelung machen. Das Recht haben, Kollektivverträge mit Krankenkassen abzuschließen und der Willkür der Kassen etwas entgegensetzen können. Diese Themen kommen uns doch gut bekannt vor, oder?
Marburger Bund: Gemeinsam lässt sich mehr bewegen?
Rudolf Henke: Gemeinschaftlich geht es einfach immer besser. Unsere Kollegen schlossen sich damals wie heute zusammen, um eine einheitliche Berufsausbildung zu erreichen, um Qualität und Wissenschaftlichkeit zu fördern, um ärztliche und ethische Haltungen zu formulieren und um das Recht zu erhalten, zu politischen Entscheidungen der Gesundheitsversorgung gehört zu werden. Das ist heute nicht anders. Und auch den Wunsch nach gerechterer Bezahlung gab es schon.
Marburger Bund: In diesem Jahr stehen die beiden Ärztekammern in NRW vor einer großen Herausforderung: Minister Karl-Josef Laumann will einen neuen Krankenhausplan vorlegen. Droht eine Welle an Klinikschließungen?
Rudolf Henke: Wir haben das Glück, als sachkundige Berater in diesem Prozess der Krankenhausplanung aktiv beteiligt zu werden. Wir wollen sichergestellt sehen, dass jeder Bürger in unserem Land an jedem Ort, ob Großstadt oder ländliche Gemeinde, den bestmöglichen Zugang zur medizinischen Versorgung hat. Wichtig sind mehr Kooperation und Koordination – nicht jedes Krankenhaus muss alles machen. Einen rein ökonomisch begründeten Konzentrationsprozess zulasten kleinerer ländlicher Kliniken lehnen wir aber ab. Da wird, da muss die Ärztekammer Nordrhein – auch als Anwalt unserer Patienten – klar ihre Stimme erheben.
Allerdings muss ich auch sagen: Es gibt manche Stimmen in der Ärzteschaft, die sagen, man könnte auf bis zu zwei Drittel der Krankenhäuser verzichten. Wenn diese Sicht sich durchsetzt, werden wir uns wundern, wie schnell der Abbau gehen kann.
Bedarf und Nachfrage müssen auch zukünftig flächendeckend und mit guter Qualität abgestimmt sein. Wir wollen nicht zulassen, dass ökonomische Zwänge die medizinisch hochwertige und zugleich menschliche Patientenversorgung immer stärker in den Hintergrund drängen. Dreh- und Angelpunkt ist für uns eine gute Ausstattung mit gut qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – auf ärztlicher Seite wie in der Pflege. Mit unserem gemeinsamen Engagement können wir verhindern, das andere über unsere Interessen hinweg entscheiden. Hier müssen wir alle aufpassen, vom Chefarzt kurz vor der Rente bis zu den jüngsten Kollegen im ersten Berufsjahr.
Marburger Bund: Kommen wir nochmal zu den jungen Ärztinnen und Ärzte. Sie zeigen ein neues ärztliches Selbstbewusstsein, wollen ihre eigene Gesundheit nicht mehr gefährden, das ist bereits im Genfer Gelöbnis wiederzufinden. Hat die ältere Ärztegeneration dafür Verständnis?
Rudolf Henke: Ja, ganz entschieden. Das Genfer Gelöbnis ist Ausdruck einer Haltung, eine Art Kompass, den wir nicht umsonst unserer Berufsordnung vorangestellt haben. Bei der Begrüßung neuer Kammermitglieder sprechen wir das Gelöbnis mit unseren jungen Kolleginnen und Kollegen zusammen.
Es ist gut, dass die Arztgesundheit stärker in das Blickfeld geraten ist. Für mich war das der wichtigste inhaltliche Punkt auf dem Deutschen Ärztetag im Mai in Münster. Über Jahrzehnte geben sich Ärztinnen und Ärzte in Praxen und Kliniken in schwierigen Rahmenbedingungen alle Mühe unsere Patienten bestmöglich zu versorgen. Oft zu einem hohen Preis und ohne Rücksicht auf sich selbst. Es ist nur vernünftig, dass Ärztinnen und Ärzte die Verletzlichkeit ihrer eigenen Gesundheit jetzt nicht länger leugnen.
Marburger Bund: Hat Sie das starke Engagement der jungen Ärztinnen und Ärzte bei dem jüngsten Tarifkonflikt mit der VKA überrascht?
Rudolf Henke: Ja, durchaus, der Warnstreik von über 12.000 Ärztinnen und Ärzte in den letzten Monaten hat sich ja schon fast den Rang einer Legende verschafft. Da haben wir zu Tausenden Kolleginnen und Kollegen gesehen, die waren vorher noch nie bei einer Aktion dabei. Aber als es nötig war, das waren sie alle da. Es ist richtig und enorm wichtig, für die nötige Verbesserung bei der Gesamtarbeitsbelastung solidarisch zu kämpfen. Noch nie hatten wir in einer Tarifrunde ein solch komplexes Forderungspaket und wir haben am Ende an allen entscheidenden Stellen etwas Gutes erreicht. Aber natürlich ist dieser Weg nicht zu Ende.
Es kann ja nicht sein, dass jeder dritte Ärztin oder Arzt eine private Arbeitszeitreform machen muss, auf Teilzeit reduziert, weil sie die durch eine beispiellose Arbeitsverdichtung geprägten Zustände in unseren Krankhäusern nicht mehr aushalten können. Viele verlassen die Kliniken ganz, manche gehen gleich ins Ausland. Das verschärft unseren Ärztemangel. Wir müssen die Flucht aus dem Krankenhaus durch bessere Arbeitsbedingungen stoppen. Da erleben wir dank unseres jüngsten Tarifabschlusses nun eine Zeitenwende. Ich hoffe, dass die junge Generation künftig weniger abspringen muss.
Marburger Bund: Tarifpolitik und Berufspolitik – beides gehört zusammen. In beiden Feldern ist nur der Marburger Bund aktiv. Interessiert das auch junge Ärztinnen und Ärzte?
Rudolf Henke: Als Marburger Bund wünschen wir uns möglichst viele junge und auch in der Berufspolitik aktive Kammermitglieder. Auf unseren Listen finden sich viele junge Kandidatinnen und Kandidaten. Ihrem Engagement im Marburger Bund ist es etwa zu verdanken, dass wir die erste Facharztprüfung in der Ärztekammer Nordrhein kostenlos anbieten wollen.
Wir möchten nicht, dass junge Kammermitglieder nach mehreren Jahren der Beitragszahlung mit ihrer Facharztprüfung das erste Mal Leistungen der Ärztekammer in Anspruch nehmen und sie dafür dann wieder eine Gebühr entrichten müssen. Das trifft vielfach auf Unverständnis.
Dies zu ändern, dafür fehlte uns bisher die nötige Mehrheit in der Kammerversammlung. Deshalb ist es so wichtig, dass sich junge Ärztinnen und Ärzte an der Wahl beteiligen und für ihre ureigenen Belange votieren. Und die gebührenfreie erste Prüfung ist viel wichtiger als eine Beitragssenkung im Gegenwert einer Kinokarte im Monat.
Marburger Bund: Wo wird die Ärztekammer Nordrhein in fünf Jahren im Spannungsfeld der Politik, Krankenkassen und der fortschreitenden Ökonomisierung der Medizin stehen?
Rudolf Henke: Der Gesetzgeber war selten so aktiv wie in den vergangenen Jahren. Mit unzähligen Gesetzen hat er in den letzten Monaten seinen Gestaltungsanspruch verdeutlicht. Es sind nicht nur die unnötigen organisatorischen Eingriffe in die Praxen, die wir als Eingriff in unsere Freiberuflichkeit verstehen. Die Behandlung unserer Patienten ist insgesamt immer schwieriger geworden.
Wir weisen ständig darauf hin, dass die Beziehung zwischen Ärzten und Patienten durch eine zunehmende staatliche Kontrolle und immer mehr rein wirtschaftliche Planungsvorgaben aus den Fugen gerät. Die ärztliche Freiberuflichkeit und Therapiefreiheit sind ein hohes Gut, für das zu kämpfen sich wirklich lohnt.
Schon mein 2011 viel zu früh verstorbener Amtsvorgänger Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe hat immer wieder vor dem drohenden Verlust der Freiberuflichkeit der Ärzteschaft gewarnt. Wir brauchen die Freiberuflichkeit als Prinzip ärztlicher Verantwortung und wir brauchen unsere Selbstverwaltung, die vorhandene Spielräume haben muss, um tatsächlich gestalten zu können und nicht nur gesetzliche Vorgaben verwalten zu müssen. Dafür müssen wir gemeinsam kämpfen.
Marburger Bund: Wie erklären Sie jungen Kolleginnen und Kollegen den Stellenwert der Freiberuflichkeit?
Rudolf Henke: In der Bundesärzteordnung heißt es wörtlich: „Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe; er ist seiner Natur nach ein freier Beruf.“ Der Bundesgesetzgeber will das so. Und das gilt unabhängig von der Frage, ob man den Beruf in angestellter, beamteter oder selbstständiger Position ausübt. Auch Bundesgesundheitsminister Spahn hat diesen Gedanken auf dem Ärztetag unter großem Applaus betont: „Auch angestellte Ärzte in Kliniken sind Freiberufler.“
Das ist deshalb so wichtig, weil darin der Schlüssel dafür liegt, in Fragen der Diagnostik und der Therapie keinen nichtärztlichen Weisungen unterworfen zu sein. Freiberuflichkeit heißt: In medizinischen Fragen wird fachlich entschieden, mit dem informierten Einverständnis des Patienten, nicht fremdbestimmt durch Aktionäre, Bürgermeister oder Bischöfe.
Für uns im Marburger Bund ist es absolut essenziell, dass unsere Ärztekammern in dieser Frage zu 100 Prozent klar sind. Alles andere wäre eine Einladung, die Ärzte zum Beispiel in den Kliniken fachlichen Weisungen etwa der Kaufleute in den Kliniken zu unterstellen. Wer sich da vergaloppiert, der muss sich korrigieren.
Marburger Bund: Was haben Sie auf der Agenda für die nächste fünfjährige Amtsperiode?
Rudolf Henke: Wir müssen uns noch stärker in den politischen Meinungsbildungsprozess einbringen. Wir brauchen verbesserte Arbeitsbedingungen und eine bessere Personalbesetzung, in der Patientenversorgung wie in der Forschung. Wir müssen organisatorische und finanzielle Lösungen finden, die ausreichend Zeit für ein gutes ärztliches Handeln und die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit ermöglichen. Zeit füreinander – das ist die vielleicht wichtigste Voraussetzung für eine gelingende Kommunikation zwischen dem Patienten und Arzt. Gelingende Kommunikation, das ist essenziell für Vertrauen.
Wir müssen Fachkräfte gewinnen, das geht aber sicherlich nur mit mehr Studienplätzen. Bis das erreicht ist, müssen wir uns besser um die vielen ausländischen Kolleginnen und Kollegen in unseren Kliniken kümmern. Nur wenn uns das zusammen gelingt, werden wir junge Ärztinnen und Ärzte nachhaltig für den schönsten Beruf der Welt begeistern können.
Wir werden zudem das verstärkte Vordringen von Kapitalinvestoren in der ambulanten Versorgung und die fortschreitende Kommerzialisierung der medizinischen Versorgung eindämmen müssen. Wir müssen dafür kämpfen, wieder mehr Zeit für unsere Patienten zu gewinnen. Wenn es uns etwa gelingt, die ausufernde Bürokratie zu reduzieren, sind wir schon ein ganzes Stück weiter.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit einer starken und einig auftretenden ärztlichen Selbstverwaltung diese Herausforderungen meistern können.