"Der Marburger Bund (MB) spricht von einer unmöglichen und unethischen Regelung, die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) von einem „Skandal-Beschluss": Ab 1. April sollen Klinikärzte in Notfallambulanzen innerhalb von 2 Minuten abklären, ob der Patient tatsächlich ein Notfall ist, und die weniger dringenden Fälle an niedergelassene Ärzte verweisen.
Als Abklärungspauschale erhalten die Kliniken 4,74 Euro. Laut Vertretern der Kassenärzte und des GKV-Spitzenverbandes soll dies die kostenintensive Notfallbehandlung in den Kliniken entlasten und den Klinikärzten mehr Zeit für die „echten Notfälle" ermöglichen.
2-Minuten-Abklärung ist nicht möglich
„Es ist nicht möglich, innerhalb von 2 Minuten einzuschätzen, ob ein Patient ein Notfall ist oder nicht. Der Patient muss zuerst aufgenommen werden und auch körperlich untersucht werden. Ich sehe ihm das doch nicht an der Nasenspitze an", kritisiert der Dr. Hans-Albert Gehle, Vorsitzender der MB-Landesverbände Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz gegenüber Medscape. Zudem hält er es für unethisch einen Patienten abzuweisen, wenn es nicht sichergestellt sei, dass er sofort einen Termin bei einem niedergelassenen Arzt bekommt.
„Die Patienten kommen häufig auch während der gängigen Praxisstunden der Niedergelassenen zu uns, weil der Vertragsarzt zwischen 11 und 15 Uhr keine Sprechstunde hat und sie in Sorge um ihre Gesundheit sind", so der Anästhesiologe und Intensivmediziner Gehle. Es ist nicht möglich, innerhalb von 2 Minuten einzuschätzen, ob ein Patient ein Notfall ist oder nicht. Dr. Hans-Albert Gehle
Insgesamt hätten die Notaufnahmen auch aufgrund des demographischen Wandels mehr Patienten zu versorgen. Dazu sei die Tendenz zu beobachten, dass sich Patienten heute mehr um ihre Gesundheit sorgten als früher. „Wenn es am Brustbein zieht und am linken Arm auch und man vorher eine Sendung im Fernsehen über den Herzinfarkt gesehen hat, dann wollen die Patienten dies nicht auf den nächsten Tag verschieben", schildert Gehle die Praxis.
DKG: Despektierliche Bewertung ärztlicher Leistung
Insgesamt sei eine Entlastung der Notfallambulanzen in den Krankenhäusern dringend notwendig: „Wir müssen die Patienten aber in eine sichere Versorgungsstruktur schicken können. Das heißt, wir brauchen einen Vertragsarzt in der Nähe, bei dem wir sicher sein können, dass der Patient mit seiner Sorge zeitnah behandelt wird und nicht noch eine Woche auf einen Termin warten muss," fordert Gehle.
Die 4,74 Euro Pauschale für die Abklärung, die nur 2 Minuten dauern soll, geht dem DKG Hauptgeschäftsführer Georg Baum gegen den Strich: „Ich bin entsetzt, über eine derart despektierliche Bewertung ärztlicher Leistung. Und das Traurige daran ist, dass die KBV als Repräsentantin der niedergelassenen Ärzte für diese Regelung die Hand reicht", sagt Baum gegenüber Medscape.
Die DKG hätte keine Möglichkeit gehabt im erweiterten Bewertungsausschuss ihre Interessen durchzusetzen – angesichts einer Stimmenmehrheit von GKV-Spitzenverband und KBV. Im Dezember 2016 hatte dann der Gemeinsame Bundesausschuss die Reform des Notdiensthonorars beschlossen – aufgrund einer Vorgabe des Gesetzgebers, Notfalldienstleistungen nach dem Schweregrad zu differenzieren.
KBV: Gelder fehlen an anderen Stelle in der ambulanten Versorgung
Marburger Bund und DKG kritisieren vor allem die Haltung der KBV. KBV-Vorstandsvorsitzender Dr. Andreas Gassen hatte Ende letzten Jahres in einer Pressemitteilung die Kliniken kritisiert. „Wenn manche Krankenhäuser offensiv damit werben, Patienten an 24 Stunden am Tag und an 7 Tagen in der Woche in ihren Ambulanzen zu versorgen, dann ist das Ziel klar: Man versucht über die Notfallambulanzen neue Patienten zu akquirieren, um unausgelastete Klinikabteilungen aufzufüllen", kritisierte Gassen.
Die Kosten für die Behandlung von leichten Fällen in den Notfallambulanzen lägen etwa bei 5 Milliarden Euro im Jahr, die dem vertragsärztlichen Vergütungssystem entzogen würden. „Gelder, die an anderer Stelle in der ambulanten Versorgung fehlen", so Gassen.
Die neue Abklärungspauschale sei zur Identifizierung von Bagatellfällen in der Krankenhaus-Ambulanz gedacht, sagt der Sprecher der KV Nordrhein, Christopher Schneider, gegenüber Medscape. Ärzte könnten es abrechnen, wenn Patienten keine Notfallbehandlung brauchen und auch durch einen Vertragsarzt versorgt werden können – oder außerhalb der Sprechstunden in den Notdienstpraxen. Zudem erhalten sie für die Versorgung von besonders schweren und aufwändigen Notfällen ab April eine höhere Vergütung.
Der Vorstandsvorsitzende der KV Nordrhein Dr. Frank Bergmann erklärt, dass die aktuelle Regelung einen Kompromiss darstelle, die Kritik an der „2-Minuten-Abklärung" sei außerdem zu relativieren. „Zum einen ist es fast immer möglich – und findet in Arztpraxen täglich tausendfach statt – schnell zu entscheiden, ob akuter Behandlungsbedarf besteht, wobei eine genaue Abklärung je nach Beschwerden unterschiedlich lange dauern kann. Zum anderen muss man alle vereinbarten Vergütungsbestandteile betrachten, auch die neuen Zuschläge für aufwändigere Abklärungen", so Bergmann. Die aktuelle Kritik sei daher eher Ausdruck der Überzeugung, dass es einer weitergehenden Regelung bedürfe und das jetzige System nur eine Übergangslösung darstelle.
Zalando-Mentalität der Patienten?
„Es kann nicht sein, dass bei der Notfallversorgung die teuerste Einrichtung, nämlich das Krankenhaus, zur Regelversorgung wird", äußerte sich auch der Bundesvorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Dr. Dirk Heinrich in einer Pressemitteilung [1]. 60% der Notfallpatienten seien keine echten Notfälle. Statt sich einen Termin bei einen Haus- oder Facharzt zu besorgen, gingen diese lieber in das nächstgelegene Krankenhaus. „Salopp gesagt, beobachten wir eine neue ‚Zalando-Mentalität‘. Die Patienten handeln oft nach dem Motto: ‚Ich möchte alles und das sofort.‘"
Ich bin entsetzt, über eine derart despektierliche Bewertung ärztlicher Leistung. Georg Baum
Diesem Einwand widerspricht Oberarzt Gehle vom Marburger Bund. „Viele Patienten warten zum Teil 4 Stunden, bis sie an der Reihe sind. Die Patienten gehen durch die Tür der Sektoren, wo sie sich am sichersten aufgehoben fühlen", meint Gehle. Insgesamt geht die DKG von einem Drittel an Patienten aus, die keine echten Notfälle in den Notfallambulanzen der Kliniken sind.
Das Problem sieht Gehle insgesamt an einer mangelnden Zusammenarbeit des ambulanten und stationären Sektors: „Die Patienten sollten nicht das Gefühl bekommen, dass sie auf der einen Seite der Tür mehr erhalten als auf der anderen Seite", betont er. Deshalb hält er es für wichtig, dass beide Sektoren in Bezug auf den Notfallbereich ein gemeinsames Konzept erarbeiteten und mehr in Richtung integrative Versorgung arbeiteten. „Derzeit werden aber die Verteilungskämpfe auf dem Rücken der Patienten und der Klinikärzte ausgetragen", so Gehle. Er fordert auch die DKG auf, sich mit dem ambulanten Sektor über integrative Konzepte Gedanken zu machen.
Bisher arbeiteten beide Sektoren nebeneinander her, dabei könne man schon bei der Aufnahme des Patienten in einem gleichen EDV-System zusammenarbeiten, um sich auch Arbeit zu ersparen. „Wir Klinikärzte wünschen es uns, dass sich beide Sektoren zuerst Gedanken machen, wie man am besten die Patienten versorgt und dann über das Geld verhandeln und sich mit entsprechenden Forderungen an die Politik wenden", so Gehle. „Wir suchen gemeinsame Lösungen, Vorwürfe, noch dazu unberechtigte, helfen niemandem", fügt er an.
DKG-Hauptgeschäftsführer Baum sagte, dass er grundsätzlich zu einer Kooperation mit dem Niedergelassenen- System bereit sei. Aber dieses müsste zunächst einmal sicherstellen, dass zu den gängigen Praxiszeiten zwischen 8 und 18 Uhr flächendeckend ein Arzt erreichbar sei.
Zwar habe der Gesetzgeber das System vorgesehen, dass Notfall-Portal-Praxen eingerichtet werden. Baum ärgert sich hier aber über eine „Rosinenpickerei-Philosophie". Die meisten Modelle der Notfall-Portal-Praxen, die momentan etabliert seien, um die Krankenhäuser eigentlich zu entlasten, hätten am Samstag nur bis 17 oder 18 Uhr geöffnet, danach sollen dann die Krankenhäuser weitermachen – dafür reiche aber die Vergütung nicht, betont Baum.
Politik soll Skandal-Beschluss korrigieren
„Zu unserer Enttäuschung hat das Bundesgesundheitsministerium den Beschluss nicht beanstandet oder aufgehalten", so der DKG-Hauptgeschäftsführer. Die DKG erwarte von der Politik, den Skandal-Beschluss zu korrigieren und per Gesetz eine Erhöhung der Vergütung für die Notfallambulanzen zu erwirken.
Derzeit werden aber die Verteilungskämpfe auf dem Rücken der Patienten und der Klinikärzte ausgetragen. Dr. Hans-Albert Gehle
Im Schnitt werden pro Fall im Krankenhaus 30 Euro vergütet, tatsächlich betragen jedoch die Kosten pro Fall 120 Euro, sagt Baum. Inzwischen betrage das Defizit 1 Milliarde Euro. Daher habe auch die Politik reagiert und gesetzlich vorgeschrieben, die Lasten der Krankenhäuser differenziert zu abzubilden.
„Das Ziel war eine Verbesserung für uns und dies ist jetzt durch die Selbstverwaltung an die Wand gefahren worden", kritisiert Baum. Die DKG fordere nun von der Politik, die ambulante Notfallversorgung der Krankenhäuser ganz aus dem kassenärztlichen System herauszunehmen und ein eigenes auf die Krankenhäuser zugeschnittenes Abrechnungssystem für ambulante Notfallleistungen einzuführen.
Der Vorstandsvorsitzende der KV-Nordrhein Bergmann sieht dagegen die momentane Situation als Übergangslösung: „Die neue Regelung inklusive der Abklärungspauschalen ist ein sinnvoller Zwischenschritt zu einer künftig sehr viel integrativeren Versorgung von Patienten in einem noch zu etablierenden System, in dem wir jedem das zu seiner Erkrankung passende Versorgungsangebot machen können – unter Einbeziehung der ambulanten und stationären Versorgungsbereiche, aber auch des Rettungsdienstes.
Entsprechende Gespräche auf Bundes- und Landesebene gebe es bereits – daran seien die KVen, aber auch die Politik, die Krankenkassen, die Vertreter der Kliniken und der Rettungsdienste sowie der Patienten beteiligt."