„Die Weltgesundheitsorganisation hat am 11. März dieses Jahres den Ausbruch des neuartigen Coronavirus zur Pandemie erklärt. In Europa wie in Deutschland steigen die Zahlen der Infizierten täglich. Allein bis zum 21. März ist die Zahl nachgewiesen Infizierter in Deutschland innerhalb von sieben Tagen von 2.050 auf 15.000 Fälle gestiegen.
Die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus stellt uns Ärztinnen und Ärzte in Praxis, Klinik und Öffentlichem Gesundheitsdienst, unsere Medizinischen Fachangestellten, die Pflegekräfte in den Kliniken und Altenheimen und alle anderen im Öffentlichen Gesundheitsdienst Tätigen vor immense physische und psychische Herausforderungen.
Wir alle stehen derzeit an vorderster Linie, sowohl was die Abwehr und Eindämmung der Pandemie angeht, als auch was den Schutz unserer Mitarbeiter und Kollegen, Patienten und nicht zuletzt der eigenen Person betrifft. Überall in Nordrhein sind die Herausforderungen, die diese Infektion mit sich bringt, spürbar. Und wir sind, das müssen wir realistisch bewerten, erst am Anfang des Ausbruchs.
In einem Land, in dem viele sich wie selbstverständlich daran gewöhnt haben, ständig alles just in time beschaffen zu können, mussten und müssen wir von jetzt auf gleich eine nicht erwartete Knappheit von Schutzkleidung, Desinfektionsmitteln und Arzneimitteln erleben.
Noch Mitte Februar hätte ich jede Wette gehalten, dass in den Kellern unserer Praxen, Krankenhäuser und Gesundheitsämter mehr als genug persönliche Schutzausrüstungen lagern, um jeder beliebigen infektiösen Situation auch ohne Nachschub eine gewisse Zeit standzuhalten. Ich hätte dies mit den Bedrohungen begründet, die wir seit 2003 in der dichten Abfolge von Situationen wie SARS-1, MERS, EHEC, Vogelgrippe, Schweinegrippe, der Ebola-Krise in Westafrika von 2014 bis 2016 und der Grippewelle 2017/18 erleben mussten und deshalb als ganz selbstverständliche Konsequenz dieser Erfahrungen bezeichnet.
„Wir haben uns zu sehr auf Leistungskraft der Märkte verlassen.“
Die bittere Wahrheit ist: In Wirklichkeit haben wir alle uns viel zu sehr auf andere und die stets ungeschmälerte Leistungskraft der Märkte verlassen. Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, Klinikleiter oder unsere Kreisstellenvorsitzenden in den Regionen schreiben uns besorgt und von Fürsorge getrieben, dass sie die Versorgung und den Schutz ihrer Mitarbeiter und Patienten und für sich selbst nur noch wenige Tage garantieren können, wenn nicht die versprochene Schutzkleidung geliefert wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Zustand ist untragbar. Wie etliche andere sonst habe auch ich in dieser Woche auf Bundes- wie auf Landesebene noch einmal auf die Dringlichkeit der Auslieferung von persönlicher Schutzausrüstung hingewiesen. Wie aus Berlin bekannt wurde, haben Hersteller nun zehn Millionen Stück Schutzausrüstung an das Bundesgesundheitsministerium geliefert. Die Materialien sind auf dem Weg und sollen über die Kassenärztlichen Vereinigungen verteilt werden. Ich hoffe nun inständig, dass wir durch die zentrale Beschaffung von Schutzkleidung überall zumindest wieder für ein Mindestmaß an Sicherheit der Beschäftigten in Praxen und Kliniken sorgen können.
„Kontinuierliche Ausdünnung des ÖGD ist ein Ding der Unmöglichkeit.“
Die Pandemie führt uns auch vor Augen, welch maßgebliche Rolle der Öffentliche Gesundheitsdienst in Krisenzeiten spielt. Jetzt zeigt sich, dass die kontinuierliche Ausdünnung des ÖGD in den letzten Jahren ein Ding der Unmöglichkeit ist. Wir erleben gerade, dass die verbleibenden Ärztinnen und Ärzte in den Gesundheitsämtern fast rund um die Uhr arbeiten, um dem Auftrag des ÖGD in Krisenzeiten gerecht zu werden. Doch sie und ihre Mitarbeiter können den Personalabbau mit ihrem Engagement nicht kompensieren. Seien Sie sicher, dass wir diese Situation nach der Pandemie mit den Kommunen besprechen werden.
Wir erfahren aktuell, dass wir vor einer unbekannten und in ihren Auswirkungen kaum vorhersagbaren Situation stehen, die uns allen – sowohl im Gesundheitswesen als auch in unserer Gesellschaft – sehr viel abverlangen wird. Das Wichtigste ist jetzt, dass wir unsere gesamte Energie da rauf verwenden, den Ausbruch des Krankheitsgeschehens zu verlangsamen.
Und das bedeutet vor allem, dass wir auf unser gesellschaftliches Leben, unsere Freizeitaktivitäten und unsere sozialen Kontakte weitestgehend verzichten müssen. Dieser Verzicht ist ein Akt der Solidarität mit unseren älteren und vorerkrankten Mitmenschen und rettet unser Gesundheitswesen vor der Überforderung.
Mein Eindruck ist leider, dass das, was in Italien passiert, und wie wir es vielleicht gerade noch abwenden können, leider immer noch nicht von allen verstanden ist.
Wir hatten am 21. März 15.000 nachgewiesene aktive Infektionen in Deutschland. 200 der Infizierten lagen auf Intensivstationen. Wenn die Zahlen gleichsinnig steigen, dann haben wir am 27. März also in sieben Tagen fast 100.000 Infizierte und brauchen dafür 1.200 Intensivplätze – wenn es genügend Schutzausrüstungen gibt, kein Problem. Steigt die Zahl der Infizierten bis zum 4. April auf über eine Million bräuchten wir 13.000 Intensivplätze Das wäre – Schutzausrüstungen vorausgesetzt – wohl noch gerade lösbar.
„Hätten wir Ostern zehn Millionen Infizierte, bräuchten wir 140.000 Intensivbetten.“
Wenn wir aber zu Ostern in die Nähe der vom RKI-Präsidenten Prof. Wieler errechneten Zahl von zehn Millionen Infizierter kämen, dann hätten wir undenkbare 140.000 Intensivplätze nötig. Wir wären gezwungen, mindestens vier von fünf intensivbedürftigen Patienten die eigentlich notwendige Behandlung vorzuenthalten.
Das bedeutet, dass wir überall in Deutschland italienische Verhältnisse hätten. Wenn es so kommt, dann müssen wir Ärztinnen und Ärzte den Erstickungstod Zehntausender unserer Eltern und Großeltern machtlos zusehen und niemand kann das verhindern. Nicht die Wirtschaft, nicht die Bundeswehr und auch nicht die Politik. Nur wir alle, die wir in Deutschland leben, können diesen Weg noch gemeinsam verhindern – mit unserem Verhalten. Jetzt haben wir dazu noch die Chance. In wenigen Wochen spätestens ist diese Chance vertan. Bis dahin wird es kein Arzneimittel und keine Impfung geben.
Das einzige Heilmittel, die einzige Impfung, die es gibt, sind wir selbst und unser Verhalten jetzt, heute, an diesem Nachmittag, heute Abend, Morgen. Lassen Sie uns alle gemeinsam kämpfen für das winzige bisschen dazu erforderlicher Vernunft!
Unser Team in der Ärztekammer Nordrhein überlegt situativ jeden Tag neu, wie wir die medizinische Versorgung vor Ort aktuell unterstützen können. So haben wir ein Beratungstelefon für Ärztinnen und Ärzte und Bürger eingerichtet und informieren über unsere Homepage und unseren InstagramAccount zu tagesaktuellen Entwicklungen. Ebenfalls beteiligen wir uns an der Vermittlung von zurzeit nicht in der Versorgung tätigen Kolleginnen und Kollegen, um die Personalnot in den Regionen abzufedern, wo sie am größten ist.
Norderney-Kongress im Mai abgesagt
Wir haben alle Fortbildungsveranstaltungen wie auch unseren Norderney-Kongress abgesagt, um das Risiko der Infektübertragung bei solchen Veranstaltungen zu minimieren. Gleichzeitig arbeiten wir daran, verstärkt Online-Fortbildungen anzubieten. Darüber hi naus bemühen wir uns da rum, den Fortbildungsnachweis in diesem Jahr auszusetzen. Ich habe diesen Vorschlag sowohl in Bund wie im Land platziert.
In dieser Woche haben wir uns schweren Herzens und leider sehr kurzfristig dazu entschlossen, unsere zentralen Facharztprüfungen mit insgesamt 700 Prüflingen zum größten Teil abzusagen. Ich habe mich lange dagegen gewehrt, weil ich weiß, dass die erfolgreich bestandene Prüfung eine tarifliche Verbesserung mit sich bringt. Wir wissen mit heutigem Stand nicht, ob wir die zentralen Prüfungstermine im Mai halten können, arbeiten aber an Alternativlösungen.
Suche nach risikoärmeren Prüfungen
Ich weiß, wie schwierig es für die Kolleginnen und Kollegen sein wird, in der jetzigen Zeit Freiräume für neue Prüfungstermine und die Aktualisierung ihrer Vorbereitung da rauf zu finden. Dazu kommt auch die emotionale Belastung, die dadurch entsteht, dass die lange Zeit der Weiterbildung und des Lernens vor einer Prüfung noch nicht erfolgreich abgeschlossen werden kann.
Seien Sie versichert, unsere Mitarbeiter in der Weiterbildungsabteilungen tun derzeit alles, um individuelle Ersatztermine zu finden, damit die Facharztprüfungen im kleineren und damit risikoärmeren Prüfungsrahmen möglichst bald durchgeführt werden können.
Dieselbe Problematik stellt sich auch bei den Abschlussprüfungen der Medizinischen Fachangestellten, die wir ebenfalls aussetzen mussten. Auch hier suchen wir gute Regelungen, damit zum schnellstmöglichen Termin nachgeprüft werden kann. Wir Ärztinnen und Ärzte erleben im Moment viel Zuspruch und Wertschätzung von Politik und Gesellschaft.
Doch wenn sich die Krise länger hinzieht, und daran habe ich leider keinen Zweifel, darf es nicht beim verbalen Applaus bleiben, dann brauchen wir praktische Hilfe für Krankenhäuser, Arztpraxen und andere Betriebe, die derzeit unentbehrlich sind. Dazu gehören auch Hilfen, die das Personal von unnötigen Belastungen bürokratischer Art verschonen. Wir brauchen einen finanziellen Schutzschirm für die Krankenhäuser, für die Praxen, für unser Personal, wir brauchen eine personelle Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes, und so wie wir einen Verzicht auf unnötige Begegnungen brauchen, so wir brauchen wir auch einen Verzicht auf jede unnötige Bürokratie.
Wir sollten jetzt nicht zuerst auf die Dinge schauen, die in der Krise nicht funktionieren, sondern mit pragmatischen Lösungen dazu beitragen, dass es eben so gut wie möglich klappt. Wir bewältigen diese Krise, wenn wir uns solidarisch unterstützen, jeder an dem Ort, wo er sein Bestes geben kann.
Ich möchte schließen an dieser Stelle mit einem Dank an alle Kolleginnen und Kollegen, an ihre Mitarbeiter, ob im Öffentlichen Gesundheitsdienst, in der Praxis, der Klinik oder in der Beratung, die sich jetzt ohne Rücksicht auf eigene Pausen und Risiken für die gute Versorgung ihrer Patienten einsetzen. Auch den Ärztinnen und Ärzte, die sich aus ihrem aktiven Ruhestand zurückmelden und ihre Hilfen anbieten herzlichen Dank. Ihnen allen gebührt mein Respekt. Bitte bleiben Sie gesund.